Eine andere Welt ist möglich – wie wär’s mit Sozialismus?

Tobias ten Brink stellt die Vision eines Sozialismus von unten vor.

Es ist Zeit für Alternativen. Immer mehr Menschen erleben, wie schreiend ungerecht die Welt ist. Es ist mittlerweile unmöglich, Nachrichten zu schauen, ohne Wut, ohne Trauer zu verspüren: Ein neues Zeitalter des Krieges hat begonnen – obwohl die Globalisierung angeblich die Entwicklung der Welt zu einem „globalen Dorf“ befördert, verschärfen sich zwischenstaatliche Konflikte. Während das ökologische Gleichgewicht des Planeten ernstlich von den katastrophalen Folgen blinder kapitalistischer Profitlogik bedroht ist, sind schon seit Jahren die technischen Möglichkeiten vorhanden, die den drohenden ökologischen Kollaps abwenden könnten – die stärksten Kapitalfraktionen der Erde, Automobil- und Ölindustrie, verhindern es. Aktuellen Zahlen der UN zufolge sterben tagtäglich etwa 100.000 Menschen am Hunger oder seinen unmittelbaren Auswirkungen – obgleich die Weltwirtschaft schon heute ohne Probleme 12 Milliarden Menschen ernähren könnte. Die Verschwendung von gesellschaftlichem Reichtum durch die Herstellung unproduktiver Güter hat astronomische Höhen erreicht: Weltweit wurden im Jahr 2002 etwa 900 Milliarden € für Rüstung ausgegeben – obwohl für nur etwa 5 Prozent des internationalen Militärbudgets laut UN-Entwicklungsprogramm UNDP alle Menschen, die es benötigen, die Grundversorgung an Wasser, Nahrung und Gesundheit und einer Grundausbildung der Kinder gesichert werden könnte. Der private Reichtum einiger Weniger türmt sich derweil zu Wolkenkratzern auf: Rolf Breuer (Aufsichtsratvorsitzender Deutsche Bank) verdiente 2001 etwa 12,7 Mio. €, was einem Stundenlohn von 4000 € entspricht – gleichzeitig wird, verschärft durch den rot-grünen Angriff auf die Sozialsysteme, Armut wieder Alltag.
Es steht während der nächsten Jahrzehnte viel auf dem Spiel. Es ist keine Übertreibung, wenn der bekannte Antikapitalist Noam Chomsky bei seiner Rede auf dem 2. Weltsozialforum 2002 davon sprach, dass entweder eine andere Welt möglich wird oder in absehbarer Zeit gar keine Welt mehr möglich ist. Weltweit machen sich Globalisierungskritiker Gedanken über eine alternative Weltwirtschaftsordnung. Im folgenden wird der Versuch unternommen, in diese Debatte die Vision eines Sozialismus von unten einzubringen.

Ziele und Werte

Wir alle wünschen uns eine gerechte Welt. Entgegen der neoliberalen Sichtweise, die den Menschen als „homo oeconomicus“ betrachtet, als Ware, als Objekt, wünschen wir uns eine Welt, in der die Befriedigung unserer sozialen Bedürfnisse, gegenseitige Anerkennung, Liebe etc. an erster Stelle stehen. In der globalisierungskritischen Bewegung lassen sich mindestens vier Ziele bzw. Werte erkennen, an denen sich die Mehrheit der Aktivistinnen und Aktivisten orientieren und für deren Realisierung wir unsere Energie und Kreativität einsetzen. Eine andere Welt sollte folgenden Zielen entsprechen:

  1. Gerechtigkeit: Das Engagement gegen die „ungerechte“ Globalisierung und das Ziel einer anderen, egalitären Welt, in der es gleiche Möglichkeiten für jeden geben soll, ist ein zentrales Anliegen unserer Bewegung. Mit dem Ziel der Gerechtigkeit verbunden sind weitere Werte: der der Freiheit, der der Gleichheit zwischen den Menschen und der der Solidarität als Basis für gemeinsames Agieren und Zusammenleben.
  2. Demokratie: Ein wichtiger Kritikpunkt an der „Diktatur des Profits“ ist ihr undemokratischer Charakter. Immer weniger sehen ein, Demokratie auf das Kreuzchenmachen in der Wahlkabine zu beschränken. Dementsprechend verankert ist die Idee von Demokratie und Partizipation/Teilnahme auch in der Praxis der Bewegung, in der sich gegen Dominanz, Führerprinzip etc. ausgesprochen wird – alternativ werden Versionen der Selbstorganisation diskutiert und z.T. praktiziert. Damit verbunden ist die Betonung auf Vielfalt/Diversität – gegen die Homogenisierung von Lebensweisen und kulturellen Eigenarten, für „eine Welt, in der viele Welten Platz haben“.
  3. Nachhaltigkeit: Auch wenn dieser Begriff von den herrschenden Institutionen schon seit der Bewusstwerdung der Möglichkeit des ökologischen Kollaps missbraucht wird, steht er in der globalisierungskritischen Bewegung gegen die Zerstörung der Umwelt und lebensnotwendiger Ressourcen. Wirtschaftliche Tätigkeit muss ökologisch und sozial nachhaltig sein, d.h. uns in die Lage versetzen, in der Gegenwart die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen zu gefährden, die ihren zu befriedigen und dabei die Lebensfähigkeit des natürlichen Lebenserhaltungssystems des Planeten zu bedrohen.
  4. Effizienz: Eine „effiziente“ Wirtschaft – damit ist nicht das selbe gemeint, was Arbeitgeberverbände tagein tagaus als Flexibilisierung der Arbeitsmärkte etc. vorbeten. Im Kontext der Globalisierungskritik wird darunter etwas anderes verstanden. Effizienz bedeutet hier, selbst mit jenen Dingen sorgsam umzugehen, deren Verbrauch wünschenswerten Zielen dient. Eine Weiterentwicklung menschlicher Fähigkeiten, um die Bedürfnisse der Menschen in ihrer ganzen Vielfalt erfüllen zu können, ein sorgfältiger Umgang mit Technik, um das Leben von Mensch und Natur weitergarantieren zu können – das gilt als wirklich effizient.

Ob sich all diese Ziele miteinander vertragen, sich in einer besseren Gesellschaft zusammenfügen können, ist schon lange Debatte. Sind Demokratie und Effizienz nicht des öfteren unvereinbar, wie manche Liberale argumentieren? Scheitert Nachhaltigkeit schlicht und einfach am Egoismus des Menschen?
Über diese Zweifel erhaben ist allerdings die Erfahrung, dass das aktuelle System – der Kapitalismus in unterschiedlichen Varianten – die genannten Werte systematisch und dauerhaft verletzt. Realität des heutigen Wirtschaftssystems ist erstens eine zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Dem Kapitalismus als einem System konkurrierender Kapitalien und Staaten, basierend auf der ökonomischen Ausbeutung der Lohnarbeit, ist zudem der Angriff auf Solidarität immanent – spalte und herrsche. Zugleich ist die Freiheit und der Anspruch auf gewisse Rechte im Kapitalismus nur formal. In der Allgemeinheit, in der bürgerliche Rechte formuliert sind, wird die Realität verschleiert. Es wird von der realen sozialen Ungleichheit der Menschen abstrahiert – wie Anatole France es in seiner berühmten Geschichte ausdrückt, verbietet es das bürgerliche Gesetz mit gleicher Erhabenheit sowohl den Reichen wie den Armen, unter einer Brücke zu schlafen oder Brot zu stehlen. Die Ungleichheit, die den Kapitalismus charakterisiert, ist damit auch die wichtigste Quelle von Unterdrückung.
Zweitens ist der Kapitalismus undemokratisch. Unsere reale Teilhabe an Politik und Wirtschaft ist äußerst begrenzt. Wir entscheiden nicht wie und was wir produzieren. Die wirklichen Entscheidungen sind in den Händen des privaten Kapitals und des Staates (dessen zentrale Pfeiler zur Beibehaltung des Gewaltmonopols – Militär, Justiz, Polizei, Ministerialbürokratien – niemals demokratisch gewählt sind) konzentriert.
Drittens bedeutet der erbarmungslose Trieb zur Kapitalakkumulation, d.h. zur Steigerung des Profits, eine Dynamik, die Nachhaltigkeit nachhaltig unterminiert. Unsere konkurrenzgetriebene Industriegesellschaft hat in den letzten 200 Jahren enorme Reichtümer geschaffen – und gleichzeitig eine ungeheure Zerstörung unseres Planeten und Vergeudung vorangetrieben, die heute mehr und mehr das Leben schlechthin bedroht.
Viertens ist der Kapitalismus nicht effizient: Strukturelle Widersprüche im System führen zur ständigen Fehlleitung menschlicher und materieller Ressourcen – beispielhaft in den Militärausgaben und den Zerstörungen in wirtschaftlichen Krisen belegt: „Wären die westlichen Ökonomien während dieser Jahre [1970er bis 1990er] in demselben durchschnittlichen Tempo wie in den 20 Jahren zuvor gewachsen, dann hätte die Gesamtproduktion um 40 Prozent über den tatsächlichen Werten gelegen. Die aus Wirtschaftskrisen resultierende weltweite Verschwendung ist viel größer als die, die durch alle Naturkatastrophen zusammen […] verursacht wird“ – Reichtümer werden vernichtet, die unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen nützlich verwendet werden könnten.

Eine andere Welt ist nötig …
Wenn wir eine andere Welt schaffen wollen, müssen wir für ein grundlegend anderes gesellschaftliches Modell, basierend auf einer wirklich anderen gesellschaftlichen Logik, eintreten. Für gewisse Reformen zu streiten, z.B. zur Finanzierung sozialer Missstände Vermögenssteuern einzuführen, ist im hier und jetzt notwendig – muss jedoch als Teil eines breiteren Kampfes zur Erreichung fundamentalerer Veränderungen gesehen werden. Die strukturellen Widersprüche – die Spaltung der Gesellschaft in Klassen, die Konkurrenz mit all ihren destruktiven Folgen bis zum Krieg, die Krisenhaftigkeit, Ausbeutung und verschiedene Formen der Unterdrückung – sind letztlich nicht durch Reformen zu beseitigen.
Leider haben sich große Teile in unserer Bewegung mit diesen Realitäten noch nicht oder unzureichend konfrontiert und sich eher darauf beschränkt, eine (selbstverständlich notwendige) Kritik des „Neoliberalismus“ zu formulieren und einige Forderungen zur Bekämpfung desselben zu stellen. Damit ist es zunächst gelungen, eine globale Bewegung zusammenzubringen – ein riesiger Erfolg. Heute aber, nach den Fortschritten der letzten zwei Jahre, ist die Bewegung weiter und die Notwendigkeit wächst, sich mit grundlegenden Alternativen zum Kapitalismus auseinander zu setzen.
Ein Grund für die bisherige Vorsicht, wirklich grundlegende Alternativen zu diskutieren, liegt auf der Hand: Der desillusionierende Effekt des mittlerweile nicht mehr „real existierenden Sozialismus“ – dem System, von dem einer der führenden Köpfe der 68er-Bewegung, Rudi Dutschke, zurecht sagte, in ihm „sei alles real, nur nicht der Sozialismus“. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks schien jegliche Vorstellung einer progressiven, zukunftsweisenden Alternative altmodisch geworden zu sein. Es wäre jedoch ein Fehler, sich dieser Stimmung zu fügen. Schon der französische Bewegungsintellektuelle Pierre Bourdieu hat dazu aufgerufen, sich dem Einheitsdenken im Neoliberalismus (pensée unique) zu widersetzen.

… wie wär’s mit Sozialismus?
Es gibt nicht viele andere Personen, die in den Eliten mehr Misstöne hervorrufen als Gestalten wie Karl Marx, Friedrich Engels und ihre sich auf sie berufenden „Nachfolger“ wie Rosa Luxemburg, W.I. Lenin, Leo Trotzki und Antonio Gramsci. „Marx ist tot – Jesus lebt“, so berauschte sich Helmut Kohl nach 1989. Zu früh gefreut! Tatsächlich entstand gerade durch den Zusammenbruch des Stalinismus, wenn auch mit einiger Verzögerung, die Chance, authentische marxistische Ideen von Emanzipation und Gleichheit wieder neu zu diskutieren. Tatsächlich hat die klassische marxistische Vorstellung einer sozialistischen Gesellschaft weitaus mehr zu bieten als gewöhnlich angenommen wird. Ihre Auffassung hat vier wesentliche Grundpfeiler:

1. Sozialismus als Prozess der Selbstemanzipation
Die zentrale These des klassischen Marxismus ist die These, dass die Emanzipation der Arbeiter nur das Werk der Arbeiter selbst sein kann. Sozialismus kann nur „von unten“ durch Massenstreiks bis hin zur Revolution und nicht „von oben“, d.h. stellvertretend für die Massen erreicht werden, wie es der amerikanische Sozialist Hal Draper gegen sozialdemokratische und stalinistische Vorstellungen formulierte.
Grundlegend in der marxistischen Revolutionstheorie und ihrer Annahme des Übergangs zum Sozialismus ist die Mutmaßung, dass der Kapitalismus die materiellen und sozialen Bedingungen schafft, die eine Gesellschaft der Freiheit und Gerechtigkeit real möglich werden lassen. Erst die unglaubliche Steigerung der Produktivität im Kapitalismus – die potentielle Abschaffung des Mangels früherer Gesellschaften – macht es möglich, eine bessere Gesellschaft zu errichten. Dabei versuchten Marx und andere nicht idealistisch-romantisierend die Revolution herbeizureden, sondern analysierten sie aus den Widersprüchen des Kapitalismus. Revolution ist insofern die Zuspitzung eines Prozesses, der aus den „Reformkämpfen“ von heute entstehen kann.
Eine soziale Revolution ist aus zwei Gründen unabdingbar. Marx formulierte, „dass sowohl zur massenhaften Erzeugung [eines] kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen notwendig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also eine Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ Nur die Bewegung der Mehrheit im Interesse der Mehrheit kann eine andere Welt schaffen – im Gegensatz zu anderen Umwälzungen wie den bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts, die nur eine Minderheit durch eine neue Minderheit ersetzten. Eine Tatsache, die im übrigen auch auf viele angeblich „sozialistische Revolutionen“ des 20. Jahrhunderts zutrifft – so z.B. der Entstehung der DDR, China 1947-49, Kuba 1959, etc.
Befreiung kann nicht stellvertretend für die Menschen erreicht werden, wie sowohl die verschiedenen Versionen stalinistischer Politik und linken Guerillabewegungen als auch die Erfolge bzw. Misserfolge linker parlamentarischer Parteien zeigen. Eugene Debs, Arbeiteraktivist aus den USA, brachte das schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf den Punkt: „Zu lange haben die Arbeiter der Welt auf irgendeinen Moses gewartet, sie aus der Knechtschaft zu führen. Er ist nicht gekommen; er wird niemals kommen. Ich würde euch nicht hinausführen, wenn ich es könnte; denn wenn ihr hinauszuführen wäret, könntet ihr auch wieder zurückgeführt werden. Ich möchte, dass ihr begreift, dass es nichts gibt, das ihr nicht für euch selbst tun könntet.“ Und weiter: „Im Kampf der Arbeiterklasse, sich von der Lohnsklaverei zu befreien, kann nicht oft genug wiederholt werden, dass alles von der Arbeiterklasse selbst abhängt. Die einfache Frage ist: Können die Arbeiter sich durch Schulung, Organisation, Zusammenarbeit und selbst auferlegte Disziplin dazu befähigen, die Kontrolle über die Produktivkräfte in die Hände zu nehmen und die Industrie im Interesse des Volkes und zum Wohle der Gesellschaft zu leiten? Mehr ist nicht dazu zu sagen.“
Nur durch den Prozess der Selbstemanzipation lässt sich sowohl die Welt als auch das Leben in ihr verändern. Es sollte klar sein, dass es sich hierbei um einen schwierigen und widersprüchlichen Weg handelt, der anspruchsvolle Lern- und Veränderungsprozesse voraussetzt, keine festgezurrten Gewissheiten birgt, und dennoch keine Alternative kennt.

2. Eine Revolution gegen den bürgerlichen Staat
Die Gewalt des Staates bei den Protesten anlässlich des G8-Gipfels in Genua 2001, bei der ein Demonstrant getötet, zahlreiche andere verletzt wurden, hat eine alte Einsicht neu geschärft: Jede Bewegung, die eine grundlegende Transformation anstrebt, muss sich mit der Gewalt der Verteidiger der jetzigen Ordnung auseinandersetzen. Marx dachte eine sozialistische Umwälzung als einen Prozess, der gegen den bürgerlichen Staat gerichtet ist. Die Erfahrung der Pariser Kommune 1871, einem Aufstand der Pariser Bevölkerung, dem die Kontrolle über die Stadt folgte, festigte Marx’ Einsicht, dass „die Arbeiterklasse … die fertige Staatsmaschinerie [nicht] einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eigene Zwecke in Bewegung setzen [kann].“
Marx gelangte zu dieser Einschätzung des Staates, indem er an seiner grundlegenden Gesellschaftsanalyse anknüpfte. Der zufolge sind die Klassenkämpfe, die Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Klassen, zentrales Kennzeichen gesellschaftlichen Lebens. Der Schlüssel zum Verständnis einer Gesellschaft ist die jeweilige Form, in der die herrschenden den beherrschten Klassen ein Mehrprodukt abziehen. Diese „ökonomische“ Ausbeutung ist immer auf „politische“ Macht, d.h. heute v.a. den modernen Staat, angewiesen. Der Staat als ein „relativ autonomes“ soziales Verhältnis, als Ausdruck der Spaltung der Gesellschaft in Klassen, muss daher zerschlagen und durch neuartige demokratische Strukturen – eine Rätedemokratie – ersetzt werden: Ein neuer Staat, der nicht mehr Staat im klassischen Sinne sei. Im Prozess der Auflösung der Klassenunterschiede nach einer erfolgreichen Revolution verliere dieser „Arbeiterstaat“ schließlich seinen Zweck – er würde absterben.
Auch Lenin, manche halten ihn zu unrecht für den Vorläufer Stalins, war im Gegensatz zur späteren stalinistischen Praxis der Ansicht, der bürgerliche Staat sei kein Mittel zur Erreichung des Sozialismus. Er müsse gestürzt und durch einen Arbeiterstaat ersetzt werden. Auch für ihn bedeutete dies nicht mehr als ein notwendiges Übergangsstadium zu einer klassenlosen Gesellschaft – in dem Maße wie soziale Ungleichheit beseitigt wird, fällt die Notwendigkeit einer übergeordneten Gewalt weg. Ausgehend von der These, der Staat sei das Produkt von Klassengegensätzen, eine mit der Entstehung von Klassengesellschaften entstandene Institution, die als scheinbar über den Konflikten stehende Kraft die Klassengegensätze im Interesse der jeweils herrschenden Klasse reguliert, resümiert Lenin, dass Staatlichkeit im Sozialismus schließlich „absterben“ würde: „Schließlich macht allein der Kommunismus den Staat völlig überflüssig, denn es ist niemand niederzuhalten, ‚niemand’ im Sinne einer Klasse, im Sinne des systematischen Kampfes gegen einen bestimmten Teil der Bevölkerung“ .
Hieran wird deutlich, dass Marx’ Konzeption des Sozialismus nicht mit jener zusammengeht, die in der UdSSR und Osteuropa existierte und in verschiedenen Ausprägungen in China, Nordkorea und Kuba bis heute fortdauert. Diese Gesellschaften zeichneten sich gerade dadurch aus, dass in ihnen der Staat ständig bombastischere Ausmaße annahm. Die Idee des „Staatssozialismus“ im Ostblock ist insofern ein Widerspruch in sich. Tatsächlich sind jene Gesellschaften als bürokratische Staatskapitalismen zu verstehen, in denen die stalinistischen Staatsbürokratien vor dem Hintergrund der Konkurrenz mit dem westlichen Kapitalismus die arbeitenden Klassen auf andere Weise ebenso ausbeuten wie die westlichen Privatkapitalisten.

3. Die Zentralität der Arbeiterklasse
Das Subjekt der Revolution ist die Arbeiterklasse, weil sie sowohl das materielle Interesse als auch die kollektiven Potentiale in sich birgt, die Gesellschaft zu verändern.
Die Zentralität der lohnabhängig Beschäftigten, d.h. heute auch der Mehrheit der Angestellten, liegt nicht nur an ihrer zahlenmäßigen Stärke. Zu Marx’ Zeiten war nur eine sehr kleine Bevölkerungsschicht der Arbeiterklasse zuzurechnen. Heute ist das anders: Allein die Arbeiterklasse Südkoreas ist größer als die gesamte Arbeiterklasse zu Marx’ Todesjahr weltweit – mittlerweile kann wahrscheinlich die Mehrheit der Weltbevölkerung zur modernen Arbeiterklasse gezählt werden. Wichtiger ist Marx zufolge die Tatsache, dass sie potentiell die größte soziale Macht aller Ausgebeuteten und Unterdrückten ausüben kann. Sie verfügt zwar nicht über die Mittel zur Produktion und ist daher gezwungen, ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen. Das System ist jedoch von ihrer Arbeit abhängig, es lebt aus der Lohnarbeit, egal ob von der „materiellen“ Produktion eines Fabrikarbeiters oder von der „immateriellen“ Arbeit einer Bankangestellten. Der größte Schwachpunkt kapitalistischer Macht liegt genau dort, wo der Reichtum produziert wird.
Um über diese Macht Klarheit zu bekommen und aus einem Zustand ohnmächtiger Teilnahmslosigkeit zu einem kämpferischen Aktivisten zu werden, sind die „kleinen“ Kämpfe des Alltags von zentraler Bedeutung. In ihnen, insbesondere in Streiks, kann es zur Durchbrechung des alltäglichen Gefühls der Ohnmacht kommen. Jeder Protest, jeder Streik kann Menschen verändern. „Ich habe festgestellt, dass ich den Sinn dieses Begriffs (Solidarität) nicht kannte. Das ist vielleicht das wertvollste, was ich in dieser Bewegung entdeckt habe“, fasst ein Boeing-Ingenieur aus den USA die Erfahrung eines erfolgreichen sechswöchigen Streiks zusammen. Insofern sind Kämpfe gegen Kürzungen oder für gewisse Reformen im System vor allem deshalb wichtig, weil sie es ermöglichen, sich der eigenen Position in der Gesellschaft bewusst zu werden und Selbstvertrauen zu schöpfen, um gegen die bestehenden Verhältnisse zu kämpfen. Insofern beginnt der Kampf für den Sozialismus hier und heute: Am Arbeitsplatz und in den Gewerkschaften, was nicht bedeutet, dass andere Kampfarenen wie Schulen, Universitäten und Stadtteile unbedeutend wären.
Aus den Bedürfnissen des Kampfes erwächst auch die Vision einer sozialistischen Gesellschaft. „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme“ , so Marx. Dies führt zum wichtigsten Punkt der marxschen Argumentation: Arbeiter sind auch deshalb so zentral, weil sie nicht anders kämpfen können als gemeinsam. Wenn sie ihre Macht ausüben wollen, können sie das nur kollektiv. Ihre materielle Lage als Bestandteile eines sehr arbeitsteiligen Produktionsprozesses zwingt sie dazu. Solidarität ist daher Voraussetzung und Folge von Arbeiteraktionen. Ebenso kann die Arbeiterklasse die Produktionsmittel nur kollektiv in ihre Hände nehmen. Was das praktisch bedeutet, zeigen aktuelle Ereignisse in Argentinien. Hier ist es als Reaktion einer Massenbewegung gegen die Auswirkungen der tiefen Wirtschaftskrise zu Ansätzen von Arbeiterselbstorganisation und Stadtteilversammlungen von unten gekommen. Es bilden sich demokratische Strukturen, die nicht den Bedürfnissen der Konzerne, sondern denen der ausgebeuteten und verarmten Massen entsprechen. Diese Bewegungen – in einem entwickelten Industrieland wie Argentinien es ist – zeigen, wie gewöhnliche Menschen anfangen können, demokratische Organisationen von unten aufzubauen. Das Beispiel der Besetzung der Textilfirma Brukman ab Dezember 2001, die als Reaktion auf die Nichtauszahlung der Löhne begann, veranschaulicht diesen Erkenntnisprozess: „Als die Arbeiterinnen mit der Besetzung des Unternehmens begannen, taten sie dies ohne genauen Plan. Noch immer hofften sie, dass der patron [Chef] mit zumindest einem Teil des Lohns zurückkommen werde. Celia Martinez, eine der Führerinnen der Brukman-Frauen, erzählte mir in einem Gespräch: ‚Wenn uns damals der patron 100 peso gegeben hätte, wären wir alle froh gewesen und wären nach Hause gegangen.’ Die Brukman-Arbeiterinnen übernahmen den Betrieb schlichtweg aus Protest und weil sie Angst hatten, daß der patron ihn zusperren und sie ihre Arbeitsplätze verlieren würden. Heute sehen sie das freilich anders. Auf meine Frage, ob sie heute wieder einen patron akzeptieren würden, antwortet Celia: ‚Nein, wir wollen nicht mehr zurück in die Sklaverei. Wir waren lange genug Sklavinnen.’ So lautet die Forderung der streikenden Brukman-Arbeiterinnen auch: ‚Verstaatlichung des Unternehmens und Weiterführung der Produktion unter Kontrolle der Beschäftigten’ […] Die durch die Kampferfahrungen vertiefte Einsicht kommt symbolisch in der Stellungnahme von Celia Martinez auf einer Konferenz zur Verteidigung der besetzten Fabriken zum Ausdruck, wo sie in einem Referat sagte: ‚Wir haben in den letzten Monaten die Erfahrung gemacht, daß wir Arbeiterinnen und Arbeiter in der Lage sind, eine Fabrik selbst zu leiten. Wenn wir dies können, warum sollen wir dann nicht auch das Land leiten können?!’“
Marx spricht den Beschäftigten zudem die Rolle einer impulsgebenden Klasse zu, die durch ihre Kämpfe Bewegungen anderer sozialer Schichten anregt und im Sozialismus allen Menschen, selbst den Kapitalisten, eine Möglichkeit besseren Lebens eröffnet. Tatsächlich haben aufsteigende und absteigende Wellen von Arbeiterkämpfen andere Bewegungen immer wieder stark beeinflusst. Die Massenstreiks 1995 in Frankreich, Streiks in Italien und Arbeiteraktionen in den USA haben wichtige Impulse für die neue globalisierungskritische Bewegung gegeben. Studenten und Schüler kamen das erste Mal mit Arbeitern zusammen.
Um das Problem des im Kapitalismus ungleichzeitigen politischen Bewusstseins – einige Arbeiter wollen eine andere Gesellschaft, andere wählen noch nach 16 Jahren Kohl die CDU, die Mehrheit schwankt zwischen (undeutlichen) Wünschen nach Veränderung und Ohnmacht – aufzunehmen, argumentieren fast alle klassischen Marxisten dafür, die kämpferischsten Teile der Klasse in einer revolutionären Organisation/Partei zusammenzufassen, um so den Kampf gegen die Herrschenden effektiver führen zu können und um dem Einfluss herrschender Ideen in der Bewegung Paroli bieten zu können. Organisierung verstehen sie ausdrücklich nicht als ein die Selbstaktivität hemmendes Moment.

4. Rätedemokratie
Institutionell würde eine sozialistische Revolution die Demontage der existierenden Staatsapparate bedeuten und die Ersetzung durch eine Selbstverwaltung und -regierung der Arbeiter in einer Rätedemokratie. Tatsächlich bildeten sich in den Höhepunkten sozialer Bewegungen, zumindest in embryonalen Formen, immer wieder solche Organe: In der Pariser Kommune 1871, den russischen Revolutionen von 1905 und 1917, der deutschen Revolution 1918/19, der spanischen Revolution 1936/37, dem Aufstand in Ungarn 1956, der iranischen Revolution 1978/79 und den Massenprotesten der Solidarnosc-Bewegung in Polen 1980/81. Die Idee der Rätedemokratie bzw. Arbeiterdemokratie ist eine aus der Praxis der Arbeiterbewegung entstandene theoretische Verallgemeinerung, nicht die schlaue Idee eines genialen Kopfes. Marx spricht erst 1871, nach der Erfahrung des Aufstandes in Paris, von der „endlich entdeckten politischen Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen“ könne. Auch Lenin und die Bolschewiki mussten erst die Erfahrung der Revolution 1905 gemacht haben, um in der Revolution 1917 die Forderung „Alle Macht den Räten“ aufstellen zu können.
Räte sind im wesentlichen spontane, durch die praktische Notwendigkeit zur Koordination und Führung von Konflikten mit der Obrigkeit geschaffene Kampforgane der Arbeiter, die Delegierte aus einzelnen Betrieben bzw. einzelnen Einheiten der Armee umfassten. Oftmals entstanden sie aus einfachen Streikkomitees. Als Interessensvertretungen gegenüber der herrschenden Klasse schlossen sich die einzelnen Räte untereinander zum Teil überregional zusammen. So gab es in der deutschen Revolution 1918/19 landesweite Rätekongresse.
Räte sind etwas anderes als eine revolutionäre Partei – sie sind Organe aller Arbeiter. Den Unterschied von revolutionärer Partei als einem nützlichen Mittel zur Erreichung der Revolution und den Räten als Organisationsformen der Massen in der Umbruchsphase und danach beschreibt der russische Revolutionär Trotzki so: „Bereits vor der Einsetzung des Rates finden wir in den Kreisen des industriellen Proletariats zahlreiche Organisationen […] Aber das waren Organisationen im Proletariat; ihr unmittelbares Ziel war der Kampf um den Einfluß auf die Massen. Der Rat aber schwang sich mit einem Schlage zur Organisation des Proletariats auf, sein Ziel war der Kampf um die revolutionäre Macht.“ Über ihre Funktion als Kampforgane der Arbeiter hinaus können sich Räte zu Organen der politischen und ökonomischen Herrschaft der Lohnabhängigen entwickeln, als alternativer Gesellschaftsentwurf zur bürgerlichen Demokratie. Dabei waren sich viele Marxisten darüber bewusst, dass um zu einer entwickelten „kommunistischen Gesellschaft“ zu gelangen, Übergangsstadien zu durchqueren wären.
Zur Abschaffung und Vorbeugung alter undemokratischer Methoden haben sich zudem zwei weitere Kernmerkmale in Rätebewegungen gebildet: Die jederzeitige Abwählbarkeit (imperatives Mandat) der Delegierten in den Räten und die Bezahlung nach Durchschnittslohn, um die Bildung neuer Eliten zu verhindern.
Ziel ist schließlich eine Gesellschaft, in der die Produktion nicht mehr auf den Kriterien des Marktes, der „zahlungskräftigen Nachfrage“, der Rentabilität, der Akkumulation etc., gründen, sondern auf der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Eine Welt also, in der Menschen statt Profite regieren. Der Sprecher der aufständischen mexikanischen Zapatisten, Subcommandante Marcos, drückt diesen Wunsch auf seine ihm unnachahmliche Weise aus: „Wir wollen, dass das Leben wie ein Kinoprogramm ist, wo wir uns jeden Tag einen anderen Film aussuchen können. Wir haben uns in Waffen erhoben, weil sie uns seit fünfhundert Jahren denselben Film aufgezwungen haben.”

Ein Konzept des Sozialismus von unten
Marx selbst verbrachte seine Zeit nicht damit, genaue Pläne für das Zusammenleben der Menschen in einer postkapitalistischen Gesellschaft zu schmieden. Heute jedoch, nach den Erfahrungen vieler Revolutionen und des Stalinismus einerseits und den sehr einflussreichen Kritiken an der Vorstellung einer sozialistischen Wirtschaft andererseits, z.B. vom neoliberalen Vordenker Friedrich von Hayek, ist es wohl notwendig, zumindest einige grobe Umrisse einer sozialistischen Gesellschaft nennen zu können. Gleichzeitig sollte der Grund dafür, weshalb Marx nichts über zukünftige Strukturen vorwegnehmen wollte, in Erinnerung behalten werden. Weil Befreiung nur als Selbstbefreiung gedacht werden kann, wird auch die Art und Weise des Zusammenlebens von den sich Befreienden bestimmt sein müssen. Die praktischen Erfahrungen und Entscheidungen der Massen in revolutionären Bewegungen werden die neue Gesellschaft formen – intellektuelle Antizipationen können höchstens helfen. Das muss klar sein, bei all dem was im folgenden v.a. als Verallgemeinerung schon gemachter Erfahrungen in früheren Revolten gesagt wird. Daher spreche ich auch von einem Konzept und nicht dem Masterplan.
Aufbauend auf der Tradition des klassischen, undogmatischen, d.h. aus der praktischen Erfahrung lernenden und sich verändernden Marxismus lassen sich einige Eckpunkte einer anderen Gesellschaft nennen:

  1. 1. Demokratie blüht, wenn Menschen sich organisieren und aktiv sind. Sozialismus muss mit einer radikalen Verbreiterung demokratischer Strukturen verbunden sein. Die Wirtschaft und alle anderen wichtigen Strukturen müssen demokratisiert werden – als Voraussetzung der Kontrolle und Leitung der Produktion durch die Bevölkerung.
  2. Im Sozialismus muss es zur Vertiefung von Demokratie kommen: Die Ersetzung der auf Passivität beruhenden heutigen bürgerlichen Wahlvorgänge, in der wir nur allzu oft die Wahl zwischen Pest und Cholera haben, durch eine partizipative Demokratie, in der Macht so weit wie möglich verteilt ist und die Menschen insbesondere an den Entscheidungen beteiligt sind, die ihr Leben berühren.
  3. Institutionell würde dies eine „Regierungsform“ bedeuten, die sich von allen bisherigen fundamental unterscheidet: es würde ein sich selbstverwaltender Zusammenschluss von Arbeiter-, Konsumenten- und Nachbarschafts- bzw. Stadtteilräten sein. Die Räte entscheiden auf verschiedenen Ebenen die Geschicke der Gesellschaft.
  4. Um eine solche Demokratie durchführbar zu machen, braucht jeder Mensch freien Zugang zu Informationen und die Möglichkeit, an öffentlichen Diskussionen teilzunehmen. Heute ist die „Öffentlichkeit“ dominiert von privaten Medienkonzernen, die zudem die Inhalte bestimmen – im Prinzip ist jedoch ein an den modernen technologischen Potentialen ausgerichteter freier und gleicher Zugang zu allen Informationen realisierbar. Ein nichtmanipuliertes Miteinander wäre möglich.
  5. Ökonomisch betrachtet bedarf eine solche Demokratie der Vergesellschaftung der meisten produktiven Ressourcen und der Massenmedien. Hierbei überträgt sich die gesamte Entscheidungsgewalt und Kontrolle auf die Bevölkerung.
  6. Zusätzlich würde eine demokratische Planung das Chaos des Marktes ersetzen – indem die Entscheidungen über den Verbrauch und die Verteilung der Güter kollektiv bestimmt werden.
  7. Die Verteilung des Einkommens würde sich so weit als möglich an den Prinzipien orientieren, die Marx als Resultat einer höheren Entwicklungsstufe des Kommunismus schon voraussah: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“ Die Debatte darüber, wie sich diese Vision im einzelnen institutionalisieren ließe, über ein Recht auf ein Grundeinkommen, die Bindung von Einkommen an Arbeit, vermittelt über Geld oder anders, muss freilich geführt werden.

Politisch visionär – ökonomisch undurchführbar?
Einer der Hauptvorwürfe gegen ein solches Modell besteht in dem Vorwurf, dass es ökonomisch nicht funktionieren würde. Gerade die Idee der Vergesellschaftung ist umstritten. Selbst in der globalisierungskritischen Bewegung besteht hierzu keine eindeutige Position. Wir kämpfen gemeinsam gegen Privatisierungen – was anstelle folgen könnte, jenseits der einfachen Wiederverstaatlichung, wird kaum diskutiert.
Unsere Gegner sind in dieser Frage knallhart: Sie bestehen aggressiv auf dem Recht des Privateigentums an Produktionsmitteln. Gegenüber solchen Argumenten müssen wir deutlich hervorheben, dass es keine selbstregierte und demokratische Wirtschaft geben kann, solange reiche Individuen und private Konzerne die Möglichkeit haben, uns von den wesentlichen Mitteln der Produktion auszuschließen.
Dennoch müssen einige Dinge spezifiziert werden: Erstens meint Vergesellschaftung etwas anderes als die bekannte Vorstellung von Verstaatlichung. Staatsbesitz als Eigentumsform ist mit kapitalistischer Ausbeutung zu 100 % kompatibel, wie wir im Stalinismus, den teilweise verstaatlichen Bereichen der Wirtschaft des keynesianischen, wohlfahrtsstaatlichen Zeitalters nach 1945 im Westen und den Entwicklungsdiktaturen des Südens gesehen haben. Die Frage der Kontrolle ist entscheidend: Haben die Arbeiter die Kontrolle oder eine Bürokratenschicht? Dabei muss die Kontrolle und das Ziel der Selbstverwaltung viel tiefer greifen, als die sog. „Mitbestimmung“ in bestimmten kapitalistischen Unternehmen.
Zweitens muss nicht alles der gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Über unsere Arbeitskraft sollten wir frei verfügen können. Die Freiheit eines Individuums zu entscheiden, was es tun möchte, ist ein im Kapitalismus versprochenes, aber gleichzeitig nicht eingehaltenes Recht. Es muss zum Wesen einer sozialistischen Gesellschaft gehören. Wie es sich mit dem persönlichen Eigentum und den Konsummitteln verhalten wird, müssten die Menschen debattieren und beurteilen. Die Menschen müssen entscheiden, was sie wollen. Die schrecklichen Erfahrungen der Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion haben gezeigt, dass sozialistische Reformen auf dem Prinzip der Freiwilligkeit basieren müssen. Die Menschen, die in der bäuerlichen Einzelwirtschaft tätig sind, können durch Beispiele überzeugt werden, dass es effektivere Formen der Landwirtschaft gibt als diejenigen privatwirtschaftlicher Natur – Zwang und Verbote müssen aber geächtet werden.
Nun angenommen, die Wirtschaft würde unter der Kontrolle der Menschen stehen und der Punkt wäre erreicht, an dem eine Koordination und Planung der Produktion unter Verwendung moderner Kommunikationsmittel wie Internet etc. machbar wäre – jenseits der idealistischen Vorstellung des „wir treffen uns jeden morgen auf dem Marktplatz und diskutieren“: Würde sie funktionieren?
Demokratische Planung wird in aller Regel als unbrauchbar und ineffektiv verworfen. Auch Linke argumentieren immer wieder, dass Planung notwendigerweise bedeutet, Informationen und Entscheidungen in den Händen einer Bürokratenschicht an der Spitze zentralisieren zu müssen. Die „horizontale“ Koordination ökonomischer Aktivitäten sei nur mit dem Markt realisierbar, die einzige Alternative seien die „vertikalen“ Kommandowirtschaften des Ostens.
Das ist falsch. Zum einen ist Planung schon heute eine zentrale Eigenschaft der Wirtschaft. Große Autofirmen unternehmen z.B. Investitionsentscheidungen und erstellen detaillierte Pläne für Multi-Milliarden-Projekte Jahre im voraus. Auch gliedern sie die Herstellung von Komponenten in kleinere Betriebe aus. Die Produktion und Anlieferung der Komponenten muss geplant werden, damit sie dem Grad der Produktion in der „Mutterfabrik“ entspricht. Aber diese ganze Planung innerhalb des Kapitalismus ist vollkommen auf das Erzielen von Profit und auf die anarchische Konkurrenz zwischen den rivalisierenden Firmen ausgerichtet. Wenn Pläne aufgestellt werden, basieren sie auf Schätzungen darüber, wer in diesem Konkurrenzkampf überleben wird – Schätzungen, die in vielen Fällen garantiert falsch sind. Pläne und Produkte werden von den rivalisierenden Firmen geheim gehalten, was zu einer gewaltigen Verschwendung und Verdoppelung von Forschung und Produkten führt. Zwar wird in einzelnen Firmen geplant, sie treffen jedoch auf einem unbekannten Markt zusammen, was immer wieder zu großem Durcheinander führt, sogenannten Überproduktionskrisen. Das Auf und Ab der Märkte bedeutet, dass Firmen mehr produzieren, als der Markt aufnehmen kann und dann Bankrott gehen. Durch die Überproduktion verfallen die Preise und eine Pleitewelle beginnt. Menschen stürzen ins Elend, nicht weil es zuwenig, sondern weil es zu viele Güter gibt. Planung müsste daher gesellschaftlich organisiert sein.
Zum anderen gibt es Vorstellungen einer Alternative jenseits von Markt und stalinistischer Kommandowirtschaft. Im Kapitalismus verläuft die Verteilung auf der Basis des Wettbewerbs zwischen Kapitalien, die durch den Druck getrieben sind, die Profitraten zu erhöhen. Sozialistische Planung wäre dagegen eine Technik zur Koordinierung wirtschaftlicher Tätigkeiten, die von der Bevölkerung gelenkt würde – auf verschiedenen Ebenen: der Ebene der Gesamtwirtschaft, der Industrie- und Konsumsektoren, der Betriebe und Haushalte. Demokratische Planung bedarf der Initiative, der Kontrolle und der ständigen Revision durch alle Menschen, sowohl in ihrer Eigenschaft als Produzenten – um die Effizienz betrieblicher Prozesse zu steigern – als auch Konsumenten – um die Produktion so eng wie möglich an die Bedürfnisse und Wünsche der Bevölkerung zu koppeln. Planung soll nicht heißen, dass jeder in seinen Möglichkeiten eingeschränkt ist, wie wir es aus den Ländern des Realsozialismus kennen. Umgekehrt: Die individuelle Wahlfreiheit kann sich erhöhen, wenn endlich alle Ressourcen in umweltschonender Art und Weise zur Bedürfnisproduktion genutzt werden. Güter, die in ihrer Nachfrage oft unerwarteten Schwankungen unterliegen (z.B. bestimmte Lebensmittel), könnten besonders aufmerksam reguliert werden: Niemand müsste für einen Joghurt zwei Tage länger warten, weil er/sie es sich vorher nicht überlegt hatte und nun spontan Lust darauf hat. Schon heute funktionieren bestimmte Supermärkte mithilfe moderner Technik so, dass jedes verkaufte Produkt sofort registriert und gegebenenfalls nachproduziert werden kann. Regelmäßige Umfragen und die partizipative Demokratie in den Räten könnten die tatsächlichen Konsumerwartungen viel eher erfassen als die heutige stichprobenartige Marktforschung. Eine demokratische Wirtschaft wird zudem rationellen Konsum fördern: Gesundheit kann die Oberhand über blinden und protzigen Genuss bekommen.
Eine alternative, auf horizontaler Koordination basierende Wirtschaft müsste aus dezentralen und zentralen Netzwerken von Produzenten und Konsumenten bestehen, die demokratisch darüber entscheiden, wofür und wie sie ihre Ressourcen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nutzen möchten. Planung muss nicht notwendigerweise ein System sein, dass von oben gesteuert wird. Kritische Wirtschaftswissenschaftler und Aktivisten haben verschiedene Modelle solch einer Wirtschaft vorgestellt – sie nennen sie die Vision einer „vereinbarten Koordination“ oder „partizipatorischen Planung“ . Ein großer Vorteil derartiger Modelle ist das Verlangen nach sich selbstregierenden Produzenten und Konsumenten, die durch horizontale Koordinierungsnetzwerke Entscheidungen treffen ohne durch ein „Planungszentrum“ geleitet werden zu müssen.
Die technische Leitung der Produktion muss jeweils von der Sache her gedacht werden. Bestimmte, bedeutende ökonomische Fragen wie z.B. Fragen der Umweltpolitik oder Ausgaben für das Verkehrswesen müssen überregional, d.h. auch zentral entschieden werden, vielleicht durch einen gewählten Delegiertenrat, auf Basis unterschiedlicher Vorschläge. Viele andere Entscheidungen müssen das nicht und sollten dementsprechend dezentral entschieden werden – selbst wenn bestimmte ökonomische Entscheidungen dann etwas mehr Zeit bedürfen. Es ist nicht unvorstellbar, dass, je mehr Menschen an den Entscheidungen der Gesellschaft beteiligt sind, sie im Laufe der Zeit Wege finden werden, dies sehr effektiv zu tun.
Insgesamt liegen hier visionäre Impulse in Richtung einer partizipativen Wirtschaft verborgen, die das möglich machen können, was mit Sozialismus von unten gemeint ist.

Unsere Ziele realisieren
In einer solchen entwickelten sozialistischen Gesellschaft könnten die materiellen Bedingungen dafür entstehen, unsere Wünsche und Vorstellungen zu realisieren. Es wäre keine perfekte Welt. Menschen würden immer noch sterben oder sich vernachlässigt fühlen. Dennoch könnte wesentliches verbessert werden:

  • Individuen, die eine Kontrolle über die produktiven Ressourcen hätten, wären nicht mehr gezwungen, sich aus Mangel an Eigentum bzw. Verfügungsgewalt über Produktionsmittel kapitalistischer Ausbeutung zu unterwerfen.
  • Menschen wären nicht mehr länger Objekt der krassen Ungleichheit im Kapitalismus, welche die persönlichen Lebenschancen an solche Zufälle wie Geburtsort (Ghetto oder Villenviertel), das Auf und Ab der Märkte etc. fesselt.
  • Die höhere Stufe des Kommunismus wäre „eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines Jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“ . Soziale Gleichheit bedeutet nicht Homogenisierung, also „Gleichmacherei“. Im Gegenteil ermöglicht die gleiche Stellung zu den Produktionsmitteln Chancengleichheit und gleiche Rechte zur Befriedigung unterschiedlicher Bedürfnisse. Echte Gleichheit erfordert die genaue Beachtung der individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Menschen könnten sich endlich ohne Angst unterscheiden, die Sehnsucht nach Vielfalt sich erst jetzt realisieren. Weit davon entfernt, eine Vereinheitlichung der Persönlichkeit zu erzwingen, würde eine sozialistische Gesellschaft eine Ausweitung der Vielfalt mit sich bringen. Perry Anderson, ein englischer Marxist, schreibt, dass „eine sozialistische Gesellschaft eine wesentlich kompliziertere Gesellschaft als diejenige, die wir heute erleben, sein [wird]. Es erscheint völlig klar, dass in einer sozialistischen Gesellschaft, in der die Produktion, die Macht und die Kultur tatsächlich demokratisiert sein würden, eine riesige Verbreitung unterschiedlicher Lebensweisen eintreten würde. Die Menschen würden wählen, wie sie leben wollen, und es ist völlig offensichtlich, dass die Menschen unterschiedliche Temperamente, Begabungen und Werte haben. Diese Unterschiede werden von der kapitalistischen Marktwirtschaft und der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückt und auf einen sehr engen Bereich eingeengt.“ Es besteht ein wechselseitiger Zusammenhang zwischen Gleichheit und Vielfalt.
  • Gerade die zwischenmenschlichen Beziehungen könnten aus dem engen Korsett kapitalistischer Reproduktionsbedürfnisse ausgelöst werden. Besonders die Frauenunterdrückung, die für den Kapitalismus lebensnotwendig ist, um die Reproduktion neuer Arbeitergenerationen mehr oder weniger kostenlos in die Familie abzuschieben, wäre von ihrer heutigen materiellen Grundlage befreit – das Ziel wirklicher Geschlechtergleichheit realisierbar. Hausarbeit und Kindererziehung könnte so weit wie gewünscht vergesellschaftet werden – z.B. durch öffentliche Restaurants und verbesserte Erziehungseinrichtungen. Es wäre unsere freie Wahl, wie Jonathan Neale vom englischen Bündnis Globalise Resistance auf dem ESF in Florenz bemerkt, wie wir unser Leben leben wollen: „Es könnte sich herausstellen, dass alle eine Standardfamilie wollen, mit 2,4 Kindern und einer geschnittenen Hecke. Vielleicht wird die Hälfte der Bevölkerung schwul oder lesbisch sein. Und vielleicht wollen alle Schwulen und Lesben 2,4 Kinder und Hecken schneiden. Ich habe keine Ahnung. Aber ich weiß, dass wir in der Lage wären, diese Entscheidungen wirklich selbst zu fällen und uns dafür zu entscheiden, was wir wirklich wollen.“
  • Besonders wichtig wird die Verwandlung der Arbeit sein. Die Art und Weise, wie sich Menschen zu ihrer Umwelt mithilfe von Arbeit in Beziehung setzen, macht das Wesen des Menschen aus. Arbeit, verstanden als praktische Tätigkeit, ist Entstehungsgrund, Produkt und Zement der gesellschaftlichen Beziehungen. Arbeit verändert die Natur und auch die Menschen selbst. Im Kapitalismus, aber auch in anderen Klassengesellschaften, ist Arbeit jedoch eine durchweg negative Erfahrung. Marx nannte die Nichtkontrolle über unsere Arbeit, unsere Arbeitsergebnisse und unsere Arbeitsbedingungen Entfremdung. Sie ist ein Hauptgrund für unser Gefühl des Unwohlseins in der heutigen Gesellschaft: Das was den Menschen erst zum Menschen macht, ist heute das, was uns nervt, uns anstrengt, uns diszipliniert, uns kaputt macht. Die Verwandlung der Arbeit in eine Form der menschlichen Verwirklichung – schon Marx spricht daher von Aufhebung bzw. Abschaffung der Arbeit – ist vielleicht die wichtigste Aufgabe überhaupt. Sie müsste über die logisch klingenden Veränderungen wie die radikale Verkürzung der Arbeitszeit, (was in einer Gesellschaft, in der Rationalisierung nicht Arbeitslosigkeit bedeutet und Millionen Arbeitskräfte nicht mehr arbeitslos sein müssen, weil sie keinen Profit bringen) oder die Einsetzung arbeitssparender Maßnahmen (Menschen fliegen zum Mond – es sollte kein wirkliches Problem sein, unangenehme Arbeiten wie Straßenreinigung oder ähnliches zu automatisieren) hinausgehen. Wichtig wäre dabei die Aufhebung der Teilung in ausführende „Handarbeiten“ und planende „Kopfarbeiten“. Jeder Mensch muss Planer und Produzent sein, was die Verschmelzung von wissenschaftlichem, sozialem und künstlerischen Wissen voraussetzt und ein kollektiver und kreativer Prozess sein müsste. Es wäre etwas, das in einer Gesellschaft, in der Bildung mehr als Ausbildung zum Rädchen im Getriebe ist, nicht unvorstellbar ist. Deshalb ist die Vorstellung absurd, dass in einer solchen Gesellschaft der Anreiz verloren ginge, überhaupt noch zu arbeiten – auch wenn es weiterhin Arbeiten gibt, die niemand erfüllend findet. Im Gegenteil: Hat die Arbeit ihren Sinn für den einzelnen Menschen zurückgewonnen, dann braucht er als Antrieb dazu auch nicht mehr die ständige Existenzangst wie im Kapitalismus. Man muss sich nur einmal vergegenwärtigen, mit welchem Eifer viele Arbeiter noch nach ihrem Arbeitstag ein Hobby betreiben können. Oder mit wieviel Enthusiasmus Erstklässler in die Schule gehen, bevor der Zensurendruck das Lernen zu einem sinnentleerten Pauken macht.
  • Gegen die These, im Sozialismus würde jegliche Dynamik gebremst und die Beendigung von Konflikten zum gesellschaftlichen Stillstand führen, ist folgendes zu sagen: Die zentralen gesellschaftlichen Konflikte der heutigen Welt wären tatsächlich aufgelöst. D.h. jedoch nicht, dass damit alle anderen Konflikte beseitigt wären: Der Konflikt zwischen Mensch und Natur und Konflikte zwischen Menschen aufgrund unterschiedlicher „Temperamente, Begabungen und Werte“ beispielsweise. Diese Widersprüche werden wohl aber nicht zu einer systematischen sozialen Polarisierung führen, so dass dieselben Gruppen von Individuen sich in jeder einzelnen Frage gegenüberstehen. Es mag zu Streitigkeiten darüber kommen, ob der Individualverkehr abgeschafft und Großstädte in kleinere, verstreute Siedlungen umgebaut werden sollten – bei ersterem werden Person A und B vielleicht übereinstimmen, bei letzterem aber nicht. Der Beginn wirklich bewusst gemachter menschlicher Geschichte würde eingeläutet. Jonathan Neale schreibt: „Betrachtet ein Baby und wie es die Welt mit seinen großen Augen begierig und voller Begeisterung aufsaugt. Nicht alle Babies, nicht jene, die nicht genug zu essen haben. Aber die anderen. Wir könnten eine Welt schaffen, in der diese Begeisterung bis ins Erwachsenenalter dauert.“ Wir wissen auch aus eigener Erfahrung: Wenn mir etwas gehört, dann schütze ich es auch; wenn ich etwas für mich mache, etwas mir erarbeite, habe ich dafür wesentlich mehr Energie übrig, als wenn es der übliche Auftrag meines Chefs an mich bezüglich der Firma XY ist. Wenn die Welt uns gehört, werden wir ihr gegenüber andere Verhaltensweisen pflegen.
  • Weil das wirtschaftliche Leben auf der Basis von Kooperation und Selbstverwaltung stünde, würde dies Solidarität sowohl voraussetzen als auch fördern. Diese Vorstellung setzt nicht an einem falschen, utopischen Menschenbild an. Von allen Säugetieren ist der Mensch dasjenige, das am wenigsten geschützt und verteidigungsfähig zur Welt kommt. Daher entspricht dem Menschen das Bedürfnis zur Kooperation seinen biologischen Bedürfnissen. Moderne biologische und anthropologische Erkenntnisse beweisen, dass menschliches Verhalten im wesentlichen nicht genetisch bzw. instinktiv, sondern durch die gesellschaftlichen Umstände geprägt ist. Menschen sind das „Ensemble“ der gesellschaftlichen Verhältnisse, welche sie natürlich auch mitproduzieren. So wie sich die Gesellschaft verändert und von den Menschen verändert wird, verändern sich Auffassungen und Bedürfnisse. D.h. nicht, dass wir einfach völlig friedliche, unkomplizierte Lebewesen sind: Aggression oder ähnliche negativ geltende Verhaltensweisen sind nicht nur konditioniert, also durch die Umwelt in uns eingebrannt, sondern als Reaktionsbereitschaft vorhanden – ob und wie sie mobilisiert werden, hängt aber von den gesellschaftlichen Umständen ab, und wie wir sie psychisch lösen.
  • Sozialismus würde die Scheindemokratie heutiger liberal-kapitalistischer Gesellschaften durch eine viel höhere Form partizipativer Demokratie ersetzen.
  • Weil demokratische Planung sowohl Produzenten als auch Konsumenten zur Teilhabe an wirtschaftlichen Entscheidungen führt, könnten die natürlichen Ressourcen auf der Basis gemeinsam geteilter Informationen und den technischen Potentialen wesentlich vernünftiger genutzt werden. Heute verhindert das Profitprinzip die Anwendung interessanter Erfindungen und es werden durch Patentierungen Informationen oder Medikamente Millionen Menschen vorenthalten. Die enorme Verschwendung und der Missbrauch von Ressourcen, die den Kapitalismus heute zu einem so ineffizienten System machen, könnten wesentlich reduziert werden.
  • Demokratische Planung würde den blinden Wettbewerb heutiger Prägung beenden und es anstelle dessen der Menschheit kollektiv erlauben, die drastischen Schritte einzuleiten, die zur Abwendung ökologischer Katastrophen, der Klimaerwärmung etc. notwendig sind. Es gäbe nach der Entmachtung der großen Automobil- und Ölkonzerne z.B. keinen Grund, innerhalb kurzer Zeit die gesamte Energie auf die Basis regenerativer Energiequellen zu stellen. Die Menschen könnten entscheiden, ob unendliches Wachstum vonnöten ist und so zukünftige Gefahren für die Erde durch die neuen demokratischen Potentiale angemessen bearbeiten – unter der Voraussetzung, dass wir unser Wissen klug nutzen.

Reformprojekte, Global Governance, Deglobalisierung – Differenzen zu anderen Konzepten
Wie schaut die Idee des Sozialismus von unten im Vergleich mit anderen Visionen einer gerechten Welt aus?

1. Den Kapitalismus reformieren?
Der Übergang zum Sozialismus ist kein gradueller. Es ist nicht der schrittweise Übergang von einer Straßenseite auf die andere – er ähnelt eher dem Problem, das sich stellt, wenn man von einem Hausdach auf das nächste springen muss. Es gilt einen Sprung zu bewältigen, der der Energien und der Kreativität von Mehrheiten bedarf. Weil der Sozialismus einen grundlegenden Bruch mit dem Kapitalismus bedeutet, unterscheidet er sich von Reformprojekten im Rahmen des Kapitalismus – beispielsweise einer gerechteren Steuerpolitik oder Beteiligungshaushalten, wie sie in Brasilien, in Porto Alegre, auf lokaler Ebene praktiziert werden und weltweit Beachtung in der Linken finden. Solche Maßnahmen sind unterstützenswert, solange sie das Leben im jetzigen System erleichtern und die Kontrolle der einfachen Leute erweitern. Die Erfahrung der sozialen Bewegungen zeigt jedoch auch, wie brüchig solche Reformen innerhalb des Systems sind. Die Geschichte des Sozialstaats beweist: Gerade in Zeiten höherer Wachstumsraten kann das System mit solchen „Störungen“ zumindest zeitweilig leben (und zum Teil sogar insofern besser, als es gewisse Bevölkerungsteile gewissermaßen befrieden kann) – sobald jedoch das System wie seit den 1970ern unter Stagnation und niedrigeren Profitraten schwächelte, wurden Sozialreformen in aller Regel als wettbewerbsschädigend gegeißelt und konnten, wenn überhaupt, nur unter Druck von unten teilweise erhalten bleiben. Auch wenn ein Linker wie Lula 2002 in Brasilien an die Macht kommt – ihm bleibt letztlich nur die Alternative der Unterordnung unter die „Marktzwänge“, will er nicht mit den Mächtigsten in seinem Land in Konflikt geraten. Dass dieser, durchaus auch für gewählte linke Präsidenten, mit dem Tod enden kann, zeigt nicht zuletzt die Geschichte der linken Regierung Chiles, die 1973 durch einen Militärputsch gestürzt wurde. In Europa gilt hier nichts grundlegend anderes: Wenn jemand wie Lafontaine 1999 über relativ zahme Themen wie die Forderung nach Zinssenkungen und der Rolle der Bundesbank aus dem Amt gedrückt werden kann, was würde passieren, wenn linke Politiker wesentlich grundsätzlichere Reformen durchsetzen wollten?
Dabei ist wichtig zu verstehen, dass der Druck in solchen Situationen selten alleine aus Chefetagen privater Konzerne kommt. Der Marxist Poulantzas antwortet auf die Formulierung nach dem Motto „Was kann der Staat gegen das Kapital tun“ folgerichtig, dass schon die Frage „von Grund auf falsch [ist]. Und zwar in dem Maße, wie es richtig ist, dass die Institutionen oder die Apparate keine eigene Macht ‚besitzen’, sondern lediglich Klassenmacht ausdrücken und verkörpern“. Eine Reformierung des heutigen Staates zu einer tatsächlich das Allgemeinwohl durchsetzenden Instanz ist nicht möglich, weil die modernen Staaten strukturelle Grenzen aufweisen, welche den Möglichkeiten einer linken Politik über den Staat und auch dem Druck von unten gewisse Schranken setzen, wenn die Lebensinteressen des Kapitals in Frage gestellt werden.

2. Global Governance und Deglobalisierung als Alternative?
Ähnliches gilt für die internationale Ebene. Vorstellungen einer Global Governance von links, einer Art Regierung und Regulierung im internationalen Rahmen, scheitert schon an der Struktur des internationalen Systems. Es existiert keine internationale Gemeinschaft – kapitalistische Konkurrenz prägt das reale Bild. Der Begriff ist eher eine Beschönigung für die US-amerikanische Hegemonie. Diese ist jedoch nicht stabil, weil sie durch konkurrierende Imperialismen bedroht wird. Daher sind auch die Vereinten Nationen kein Ort unparteiischer Autorität. Ihre Struktur, die fünf Siegermächten eines vor 50 Jahren geführten Krieges die Macht übertragen hat, ist nicht grundlegend reformierbar – außer die mächtigsten Staaten verzichten auf sie, was natürlich ihre Wirksamkeit drastisch einschränken würde. Die bestehenden neoliberalen Institutionen mithilfe anderer Institutionen zu ersetzen bzw. sie zu kontrollieren – z.B. der UN-Konferenz über Handel und Entwicklung, multilateralen Umweltabkommen, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), aber auch der EU und entstehenden Handelsblöcken wie dem Mercosur in Lateinamerika – oder mit ihnen zu koexistieren, läuft in die falsche Richtung. Sie sind Teil des Problems und nicht ihre Lösung. Dennoch ist die Idee, international Veränderung durchführen zu müssen, an sich richtig. Die Vision einer anderen Gesellschaft ist nur als ein weltweiter Prozess zu verstehen. Ähnlich wie sich der Kapitalismus über den Erdball ausbreitete, müsste auch der Sozialismus diese Hürde nehmen. Schon Trotzki schrieb daher, dass der Abschluss einer sozialistischen Revolution „im nationalen Rahmen undenkbar [ist.] Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinn des Wortes zur permanenten Revolution; sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Sieg der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten“.
Der Versuch, den „Sozialismus in einem Land“ aufzubauen, ist eine Illusion. Dies aus zwei Arten von Gründen. Zum einen zeigt die historische Erfahrung, dass der Versuch, Inseln im Kapitalismus aufzubauen, zum Scheitern verurteilt ist. Entweder führt der ökonomische und militärische Druck dazu, sich wieder dem kapitalistischen Weltmarkt zu unterwerfen oder die repressiven und ausbeuterischen Merkmale des Kapitalismus zu imitieren. Das Scheitern der Russischen Revolution nach 1917 aufgrund ihrer Isoliertheit und die folgende Transformation einer fortschrittlichen in eine tyrannische Gesellschaft ist das bekannteste Beispiel hierfür. Zum anderen können viele Menschheitsprobleme wie der Klimawandel nur in einem weltweiten Kontext angegangen werden. Rätedemokratien müssten sich also in einem Prozess der Ausbreitung von Revolutionen von unten so schnell wie möglich weltweit ausdehnen.
Das unterscheidet diese Vision von einigen bekannteren Vorstellungen in der Bewegung über Alternativen zum globalen Kapitalismus – z.B. der Idee der Deglobalisierung , d.h. der Umorientierung unserer Ökonomien von der Produktion für den Export zu einer Produktion für den lokalen Markt (oftmals Lokalisierung der Produktion genannt), ohne damit einen kompletten Rückzug aus der Weltwirtschaft zu implizieren. Es gibt keinen Grund, warum eine emanzipierte Menschheit den weltweiten Zugang zu Ressourcen verschließen sollte, wenn dieser gerecht verteilt und demokratisch reguliert wäre. Mit anderen Worten: Es ist obszön, dass im heutigen Zimbabwe Blumen für den Export angebaut werden, während dort gleichzeitig Massen hungern – es wäre unklug, wenn in einer demokratischen Welt, in der Güter fair verteilt würden, darauf verzichtet wird, bestimmte erfolgreiche Methoden zum Anbau von Getreide aus anderen Teilen der Erde nicht zu nutzen – unter der Voraussetzung, sie lassen sich in das jeweilige Ökosystem integrieren.
Man muss grundlegender herangehen, um über das Dilemma der doppelseitig-reformistischen Vorstellungen von internationaler Regulation einerseits und Strategien der Lokalisierung andererseits hinausgelangen zu können.

3. Und um es noch einmal zu wiederholen: Sozialismus von unten widerspricht den verschiedenen Modellen staatskapitalistischer Bauart fundamental. Tony Cliff, der Begründer der fundiertesten Kritik am System des Ostblocks, schreibt, warum er niemals die Bezeichnungen Sowjetunion oder UdSSR benutzte: „Es gab keine Sowjets (Räte) im stalinistischen Rußland. Bei jeder Wahl trat in jedem Wahlkreis nur ein Kandidat an und nie gewann er weniger als 99% der Stimmen oder mehr als 100 %, außer in einem Fall: 1947 gewann Stalin bei den Wahlen zum Obersten Sowjet über 140 %. Am nächsten Tag erklärte die Prawda: Wähler aus den umliegenden Wahlkreisen waren gekommen, um durch ihre Wahl für Stalin ihrer enthusiastischen Unterstützung Ausdruck zu verleihen. Normalerweise wurden die Wahlergebnisse nach der Wahl bekanntgegeben – außer in einem Fall: beim Referendum in Lettland, Litauen und Estland im Jahre 1940, in dem über den Beitritt zur UdSSR abgestimmt wurde, machte TASS, die Moskauer Nachrichtenagentur, einen Fehler und veröffentlichte das Ergebnis einen Tag vor der Wahl. So druckte die London Times die Ergebnisse, bevor gewählt wurde. Auch von einer Union kann keine Rede sein. Eine Union ist ein freiwilliger Zusammenschluß. Es gab zwischen der Ukraine und Rußland keine andere Verbindung als zwischen Indien und Großbritannien. Die UdSSR war ein Imperium, keine Union. Der dritte Buchstabe in UdSSR steht für sozialistisch. Rußland war nicht sozialistisch, sondern staatskapitalistisch. Die letzten Buchstaben stehen für Sowjetrepubliken. Aber es war keine Republik, also Demokratie, sondern eine totalitäre Tyrannei.“ Jeder und jede hat in der Zeit des Bestehens solcher Regime die Aufgabe, an ihrem Sturz mitzuwirken.

Strategien
Eine andere Welt ist möglich – und um das zu beweisen brauchen wir Visionen und Argumente, sie zu begründen. Es kommt dabei darauf an, über das Denken und die Analyse von Bewegungen die engen Schranken bürgerlicher Vorstellungen zu überschreiten, und, wie der marxistische Philosoph Ernst Bloch schrieb, wieder das Hoffen zu lernen. Das Denken und die Vision allein schafft jedoch noch keine andere Welt. Was wir daher vor allem brauchen, ist die Diskussion über die Strategie zur Erreichung unserer Ziele, und eine daran anschließende Praxis. Wie versucht wurde aufzuzeigen, ist die reformistische Strategie keine angemessene Antwort auf die Widersprüche unserer Zeit. Es lohnt sich für Reformen zu kämpfen – aber wir brauchen ein anderes System. Wenn ein Damm zu brechen droht, reicht es nicht, ein paar Finger in die Löcher zu stopfen. Wir dürfen die Fehler der Grünen oder der SPD nicht wiederholen. Jeder Versuch eine sozialistische Gesellschaft oder eine andere grundlegende Alternative zu erreichen, muss die großen ökonomischen, militärischen und politischen Machtkonzentrationen konfrontieren, die den heutigen Kapitalismus kennzeichnen.
Diese Macht kennt eigentlich nur eine wirksame Gegenmacht – Massenbewegungen bis hin zu Revolutionen, insbesondere getragen von den lohnabhängig Beschäftigten. Wie wir dazu beitragen, solche Bewegungen aufzubauen und zu stärken, muss daher immer unsere Hauptfrage in der politischen Aktivität sein. Welche Hindernisse es dabei zu überwinden gilt – z.B. die Frage, wie die vielfältigen Energien in den Bewegungen mit einem gemeinsamen Fokus verbunden werden können, das ungleiche politische Bewusstsein in der Bevölkerung usw. – muss vor dieser Frage im Lichte gemachter Erfahrungen immer wieder diskutiert werden.
Wir müssen unser Schicksal in unsere Hände nehmen. Weil kein Automatismus hin zu einer besseren Welt besteht, müssen wir um sie kämpfen. Und das am besten organisiert, wie es die Klassiker der marxistischen Theorie immer wieder betonten. Vielleicht wird dann Realität, was die bekannte indische Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy in ihrer ergreifenden Rede auf dem 3. Weltsozialforum 2003 ausdrückte: „Vergessen Sie niemals: Wir sind viele, die nur wenige. Ihre Abhängigkeit von uns ist größer als umgekehrt. Die ‘andere Welt’ – sie ist nicht nur möglich, sondern schon unterwegs zu uns. An stillen Tagen höre ich sie bereits atmen.“

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