Weiter zur Neuen Linken

„Wir brauchen einen neuen SDS“, sagte Oskar Lafontaine zum Auftakt des „Get up -stand up“-Studentenkongresses in Frankfurt/M. Linksruck erzählt in zwei Teilen die Geschichte der wichtigsten linken Studentenorganisation. Diesmal: Die Spaltung des SDS und die Geburt der neuen Linken der 70er Jahre.
(erster Teil dieser Serie)


Der Rote Mai 1968 in Frankreich: Der größte Generalstreik der Geschichte rückte die Arbeiterklasse ins Zentrum der Debatten im SDS

Ausgangspunkt der 1968 beginnenden Diskussion und damit auch der Organisationen der Neuen Linken waren die Ideen der Antiautoritären im SDS. Eine ausgearbeitete Theorie gab es nicht. Weil aus diesen Ideen im Zuge der Entwicklung der Neuen Linken der 70er Jahre so viele unterschiedliche Weiterentwicklungen und Schlussfolgerungen gezogen wurden, ist heute der Begriff „antiautoritär“ vieldeutig und unklar geworden. So besteht oft die Vorstellung, die Studenten hätten in erster Linie gegen autoritäres Verhalten gekämpft.

Im SDS dagegen bedeutete antiautoritäre Politik eine Politik, die gegen jede Herrschaft von Menschen über Menschen kämpft, die nicht mehr rationale, von der Entwicklung der Produktivkräfte her notwendige, Herrschaft ist. Laut Marx und Engels hatten Herrschaft und Unterdrückung in der Geschichte sehr lange Zeit einen Kern von gesellschaftlicher Notwendigkeit und Rationalität. Solange nämlich, wie es in der Gesellschaft noch nicht die materiellen Möglichkeiten gab, für alle Mitglieder der Gesellschaft ein Leben ohne Not und Mangel zu garantieren. Die objektive Voraussetzung für die Abschaffung von Herrschaft entwickelte erst der industrielle Kapitalismus.

Deshalb sprachen Marx und Engels auch davon, dass das Bürgertum, die Klasse, die im Kapitalismus die Gesellschaft beherrscht, zeitweilig „revolutionär“ ist. Denn sie entwickelt die industrielle Produktion. Diese Zeit ist jedoch spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts vorbei. Seitdem ist die Herrschaft der winzigen Minderheit der besitzenden Klasse irrational. Sie muss deshalb zu immer autoritäreren Formen der Herrschaftssicherung greifen, deren barbarischste Form der Faschismus war.

Die Alternative zur autoritären Herrschaft war für die Mehrheit im SDS erst einmal nicht die anarchistische Vorstellung von der sofortigen Abschaffung jeder Herrschaft, sondern von völliger Demokratie. Die Möglichkeit, Überfluss zu produzieren, macht objektiv die Arbeiterdemokratie möglich, die nicht mehr auf gleiche politische Rechte beschränkt ist, sondern in der diejenigen, die das Leben der Gesellschaft produzieren, demokratisch darüber entscheiden, was und wie produziert wird. Wenn erstmals in der Geschichte die Mehrheit der Gesellschaft herrscht, kann der Staat als Gewaltapparat schnell abgeschafft werden. Diese ausgedehntere erweiterte Demokratie hatte Marx schon im Kommunistischen Manifest von 1848 als Ergebnis der Arbeiterrevolution, als ihren ersten Schritt gesehen. Erstmals entwickelten die Arbeiter 1871 in der Pariser Kommune die Organisationsformen einer solchen Arbeiterdemokratie. In allen späteren Arbeiterrevolutionen entstand immer wieder von unten diese Rätedemokratie.

Aber auch demokratische Entscheidungen, Mehrheitsentscheidungen, sind immer noch den Einzelnen einschränkende Entscheidungen, also Herrschaft von Menschen über Menschen, und entsprechen noch nicht dem kommunistischen Prinzip: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“

Die Mehrheit des SDS sah in der Herrschaft der Bürokratie in den Ostblockstaaten ebenfalls eine autoritäre Herrschaft und keinen Sozialismus, der ohne Arbeiterdemokratie nicht besteht. Als im August 1968 die russischen Panzer in Prag einrollten, um die Reformbewegung zu unterdrücken, war es der SDS, der vor den russischen Einrichtungen große Demonstrationen gegen den Einmarsch organisierte.

Obwohl der SDS die Verhältnisse in den Ostblockstaaten nicht schön redete und an Marx festhielt, der den Sozialismus nicht zuletzt durch das Absterben des Staates kennzeichnete und nicht mit dem Ausbau des Gewaltapparats, machten sich die meisten antiautoritären Revolutionäre im SDS große Illusionen über das Wesen der Herrschaft in Vietnam, Kuba und China. Diese Staaten, die sich am stalinistischen Entwicklungsmodell der UdSSR orientierten, wurden als sozialistisch angesehen. In den dort bestehenden so genannten „Organen der Volksmacht“, wurden fälschlicherweise demokratische, räteähnliche Organisationsformen gesehen.

Der Kampf in diesen Ländern um nationale Unabhängigkeit und nationale Entwicklung, die nationale Revolution gegen die Herrschaft des Imperialismus, wurde zur sozialistischen Revolution uminterpretiert, obwohl diese Revolutionen nicht von der Arbeiterklasse gemacht worden waren, sondern von Parteien der städtischen Intelligenz, gestützt auf Bauern, völlig unabhängig von der Arbeiterklasse dieser Länder. Die Kommunistischen Parteien in diesen Ländern hatten sogar den selbständigen Klassenkampf der Arbeiter, auch während der Revolution, unterdrückt.Für diese starke Identifikation der Antiautoritären mit den Parteien Maos, Ho Chi Minhs oder auch der Guerrilla Che Guevaras, die sich völlig unabhängig von der Arbeiterklasse organisiert hatten, gab es zwei wichtige Gründe:

Zum einen fanden in der Nachkriegszeit nur in der Dritten Welt Revolutionen gegen den Imperialismus statt. In den Zentren des Imperialismus, in den hochindustrialisierten westlichen Staaten, gab es keine größeren Klassenkämpfe. Zum andern wurde die Arbeiterklasse in der BRD als konservativ, verbürgerlicht, integriert angesehen. Eine Veränderung dieses Zustands schien langfristig nicht möglich. Insofern identifizierten sich die revolutionären Studenten, in ihrer Rolle als Intelligenz, mit der revolutionären städtischen Intelligenz in den vom Imperialismus unterdrückten Ländern.

Die Antiautoritären, die sich als „undogmatisch“ verstanden – gegen die „dogmatischen“ Stalinisten im SDS – hatten einen Kernpunkt der Marxschen Theorie aufgegeben, der Mitte bis Ende der 70er Jahre zum Scheitern der meisten Organisationen der revolutionären Neuen Linken führte.

Sie gingen davon aus, dass der Kapitalismus es grundsätzlich – nicht nur vorübergehend – geschafft habe, seine Krisen so weit unter Kontrolle zu bekommen, dass ernsthafte ökonomische und soziale, und damit auch politische, Erschütterungen nicht mehr auftreten. Sie waren überzeugt, dass der Kapitalismus dauerhaft die wichtigsten Bedürfnisse der Arbeiterklasse befriedigen könne. Auf dieser Basis könnten die hoch entwickelten Apparate der kapitalistischen Manipulation die Entstehung von Klassenbewusstsein verhindern. Deshalb wurden auch die Gewerkschaften als Teil des Herrschaftsapparates, des erweiterten Staates, gesehen. Da Lohnforderungen den Kapitalismus stabilisierten, würden die Gewerkschaften aktiv dazu beitragen, die Arbeiterklasse der autoritären Herrschaft zu unterwerfen.

Marx sah aber überhaupt nur deshalb die Möglichkeit der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse, weil der Kapitalismus durch die Verschärfung seiner ökonomischen Widersprüche die Arbeiterklasse dazu zwingt, die praktische Notwendigkeit setzt, zu kämpfen und im Kampf ihr Bewusstsein zu ändern.

Wenn sich der Kapitalismus aber auf ewig stabilisieren kann, keine Notwendigkeit mehr zu einem sich verschärfenden Klassenkampf besteht, es damit auch keine Schule für die Entwicklung von Klassenbewusstsein mehr gibt, werden sich die Arbeiter nicht selbst befreien können. Obwohl die Antiautoritären von der Notwendigkeit der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse ausgingen, hatten sie den von Marx erkannten materialistischen Zusammenhang zur Seite geschoben und damit in Konsequenz objektiv die Befreiung der Arbeiterklasse zu einer idealistischen Angelegenheit gemacht, die entweder eine Sache ist, die stellvertretend für die Arbeiterklasse gemacht wird, oder gar nicht möglich ist.

Das ist der grundlegende Widerspruch in den Ideen der Antiautoritären. Auf der einen Seite halten sie die Revolution für notwendig, auf der anderen Seite sehen sie nicht mehr, wie die Masse der Gesellschaft, die Arbeiterklasse, dazu kommen kann, sich selbst zu befreien. Es war diese „undogmatische“ Revision von Marx, an der letztlich die verschiedenen voluntaristischen, idealistischen, erziehungsdiktatorischen Vorstellungen anknüpften, die die meisten Organisationen der Neuen Linken bestimmten, und die einer der wichtigen Gründe war, das Ziel der sozialistischen Revolution aufzugeben.

Nur eine winzige Gruppe im SDS setzte sich auf der Grundlage der marxistischen Theorie mit der Frage auseinander, warum der Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg einen solchen stabilen Aufschwung erlebte. Mit der Theorie des Rüstungskapitalismus fand sie eine Erklärung für die Nachkriegsstabilität, und konnte gleichzeitig die objektiven Widersprüche erkennen, die diese Stabilität nur vorübergehend machten. Diese Position hatte im SDS praktisch keinen Einfluss. 1969 entstand unter anderem um diese Position die Sozialistische Arbeitergruppe. Hier liegt eine Tradition des Linksruck-Netzwerks.

In den antiautoritären Auffassungen gab es noch andere wichtige Unklarheiten – Unklarheiten über den Charakter des Faschismus, das Wesen der Sowjetunion, das Scheitern der russischen Revolution, das Verhältnis von Partei und Klasse, um nur einige zu nennen. Das war zunächst kein Problem, weil die Aufwärtsentwicklung der Klassenkämpfe diese Unklarheiten überdeckte.

Die wilden Streiks der Stahl- und Bergarbeiter im September 1969 waren der Beginn einer Periode von Klassenkämpfen in der BRD, die den Organisationen der Neuen Linken (die beiden großen Strömungen waren die maoistischen Parteien und die Sponti-Gruppen) und den antikapitalistischen Bewegungen enormen Auftrieb gab. Die Arbeiterklasse wurde wieder als soziale Kraft der Veränderung der Gesellschaft erfahren. Die Vorstellung von einer sozialistischen Revolution wurde von einer grauen zu einer vorstellbaren Theorie.

Hatten die Antiautoritären vorher nur eine integrierte, konservative Arbeiterklasse gesehen, so überschätzten jetzt viele die Entwicklung des Klassenbewusstseins völlig. Bei den Demonstrationen und Streiks während des Pariser Mai 1968 ging Cohn-Bendit, damals Anarchist und Studentenführer, von einer revolutionären Situation aus. Die herrschende Klasse sei so paralysiert gewesen, dass eine Besetzung der Ministerien durch die Revolutionäre den hunderttausenden demonstrierenden Kämpfern der Arbeiterklasse die Macht hätte übergeben können, die sie dann auch ergriffen hätten, um die eigene Herrschaft aufzubauen. SDS-Genossen schrieben den Septemberstreiks einen „revolutionären“, einen nicht rein gewerkschaftlich-ökonomischen Charakter zu, weil die Arbeiter an den Gewerkschaftsführungen vorbei streikten. Tatsächlich waren die wilden Septemberstreiks, mit denen bei explodierenden Gewinnen die „soziale Symmetrie“, die in der Krise entgangenen Lohnerhöhungen, eingefordert wurden, Ausdruck eines wieder erwachenden gewerkschaftlichen Kampfbewusstseins.

Die Überschätzung des Klassenbewusstseins zeigt, dass die revolutionären sozialistischen Studenten nicht verstanden hatten, dass der 30-jährige Aufschwung der Wirtschaft unter den Arbeitern und Angestellten eine kräftige Grundlage für die Ideen der SPD und der Gewerkschaftsbürokratie über die Reformierbarkeit des Kapitalismus gelegt hatte.

Mitte bis Ende der 70er Jahre gingen mit Ausbruch der ersten tiefen Wirtschaftskrise die Klassenkämpfe schlagartig zurück oder endeten in Niederlagen. Die Arbeitslosenzahlen waren auf eine Million empor geschnellt und führten zu einer starken Einschüchterung. Das Versprechen der SPD und der Gewerkschaftsführung, dass die sozialliberale Regierung fähig sei, diese Krise, wie die kleinere Krise von 1967/68, im „gemeinsamen Interesse von Kapital und Arbeit“ zu überwinden, wurde geglaubt.

Mit dem Rückgang der Klassenkämpfe verlor sich auch wieder die Erfahrung, dass gesellschaftliche Veränderungen durch die Macht kollektiv kämpfender Arbeiter erstritten werden können. Theorien, die den „Abschied vom Proletariat“ behaupteten, bekamen wieder Konjunktur und die Perspektive einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft wurde wieder graue Theorie.

Revolutionäre Gruppen, die nicht an den Marxschen „Dogmen“ der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und der Selbstbefreiung der Arbeiterklasse festgehalten oder angeknüpft hatten, mussten in dieser Situation resignieren.

Viele gingen in die Grünen, um schließlich gemeinsam mit ihnen zurückzukehren zur Rechtfertigung der autoritären kapitalistischen Herrschaftsverhältnisse.

Stefanie Haenisch, von 1967 bis 1969 Mitglied im SDS, danach bis 1994 Mitglied der Sozialistischen Arbeitergruppe (SAG), ist heute in der WASG und im Linksruck-Netzwerk organisiert.

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