Marxismus konkret: Kann es eine Revolution in Deutschland geben?

Der Rücktritt Lafontaines hat eindrucksvoll unterstrichen, daßsich parlamentarische Politik nicht gegen die Wirtschaft durchsetzen kann.
Dennoch erscheint vielen die Ansicht, daß die Macht des Kapitals
auf revolutionärem Wege gebrochen werden kann, erst recht als utopisch.
Revolution sei eine Sache der Vergangenheit.

Diese Auffassung beruht im wesentlichen auf der Annahme, daß die
gegenwärtigen Verhältnisse stabil sind. Die Gesellschaft wird
als statisch verstanden.

Das ist nicht verwunderlich. Jähe Wendungen in der Geschichte
erschienen seit jeher kurz vorher als undenkbar und überraschten stets
alle Beteiligten.

Überraschend

Das gilt für die meisten Kriege und erst recht für Revolutionen.
Ihr Ausbruch kam selbst für jene häufig überraschend, die
sie seit Jahren ankündigten. So sprach Lenin vom 20. Jahrhundert als
einer "Epoche der Kriege und Revolutionen".

Doch noch im Januar 1917 hielt er im Schweizer Exil eine Rede, in der
er erklärte, daß seine Generation die Revolution wohl nicht
mehr erleben werde.

Einen Monat später brach die russische Zarenherrschaft unter dem
Druck der Februarrevolution in nur wenigen Tagen zusammen, einige Monate
später folgte die erste erfolgreiche Arbeiterrevolution der Geschichte.

Die Unberechenbarkeit großer sozialer Erschütterungen hängt
damit zusammen, daß der Kapitalismus ein anarchisches, ungeplantes
System ist.

Die Kapitalisten haben ihr eigenes System nicht im Griff. Sie können
nicht verhindern, daß es immer wieder zu verheerenden wirtschaftlichen
Krisen kommt.

Diese haben schon so manches zuvor stabile Land völlig durcheinander
gewürfelt. Denn jede scharfe Veränderung der Lebensumstände
verändert auch das Bewußtsein der Menschen.

Artillerie

Der italienische Marxist Antonio Gramsci malt das Bild von den Wirtschaftskrisen,
die wie schwere Artillerie die Ideengebäude des bürgerlichen
Systems beschießen. Ist das Gebäude erst zur Ruine geworden,
werden die darunter liegenden, eigentlichen Herrschaftsstrukturen des Kapitalismus
deutlich.

Je krasser der Kapitalismus außer Kontrolle gerät, desto
unglaubwürdiger erscheinen diejenigen Theorien, die ihn als das beste
aller möglichen Systeme verkaufen wollen.

Tempo und Radikalität sind dabei natürlich verschieden: Während
die Mehrheit noch Schritt für Schritt Skepsis gegenüber dem Parlament
ansammelt, ist eine Minderheit vielleicht schon dabei, das gesamte System
in Frage zu stellen.

Das Versagen des Parlaments angesichts der Krise begünstigt somit
den Bruch einer nennenswerten Minderheit mit bürgerlichen Formen der
Politik. Sie öffnet Menschen für revolutionäre Ideen.

Die Krise bedroht aber alle Arbeiter, nicht nur die besonders kämpferischen.
Je tiefer die Krise, desto breiter und brutaler die Angriffe der Herrschenden.

Dadurch werden auch zuvor "unpolitische" oder apathische Arbeiter in
den Kampf hineingezogen. Die gemeinsamen Erlebnisse und Erfahrungen einer
gesamten Belegschaft in einem sich zuspitzenen Kampf bieten dann den fortschrittlicheren
Arbeitern die Möglichkeit, von der Minderheit zur Mehrheit zu werden.

Gegenwart

In den Zeiten der Vollbeschäftigung der 60er Jahre ging die breite
Masse der Arbeiter noch davon aus, daß es ihre Kinder einmal besser
haben würden als sie selber.

Die heutige Zeit ist dagegen von allgemeiner Unsicherheit und Zukunftsangst
geprägt. Die alten Gewißheiten zerbrechen und die Erklärungsmuster
der herrschenden Klasse verlieren an Überzeugungskraft.

Der systematische Abbau des Sozialstaats wurde lange mit der hohen
Arbeitslosigkeit gerechtfertigt. Doch die steigt und steigt dennoch.

Das Gefühl herrscht vor, daß alles nur noch abwärts
geht. In einer Umfrage im letzten Jahr rechneten 39% damit, daß Deutschland
"unaufhaltsam auf eine große Katastrophe zusteuert".

Unter diesen Bedingungen kann ein Zusammenkommen von wirtschaftlichen
Kämpfen mit politischen Konflikten etwa um den gegenwärtigen
Krieg in eine große gesellschaftliche Krise münden, die die
Ohren von immer mehr Arbeitern für die Argumente von revolutionären
Sozialisten öffnet.

Ob daraus eine Revolution wird oder nicht, hängt nicht nur von
der Krise ab. Sondern vor allem davon, ob es eine Linke gibt, die diese
Revolution will, und ob sie stark genug ist, sie zum Erfolg zu führ

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