Wie kann die Gesellschaft verändert werden?

Seit 1914 vertritt die
größte deutsche Arbeiterpartei, die Sozialdemokratie, die
Auffassung, daß die Gesellschaft ohne gewaltsame Revolution
verändert werden kann.

Es komme vielmehr darauf
an, daß die Sozialisten genügend Einfluß in der
Bevölkerung gewinnen und so schließlich die Kontrolle über
politische Einrichtungen wie Parlamente und Stadträte erlangen.
Dann werden die Sozialisten in der Lage sein, die Gesellschaft
dadurch zu verändern, daß der bestehende Staat – seine
Beamten, seine Gerichte, seine Polizei und seine bewaffneten
Streitkräfte – Gesetze zur Geltung bringen wird, die die Macht
der Unternehmerklasse beschränken können.

Auf diese Weise ließe
sich der Sozialismus allmählich einführen. Gewalt wäre
überflüssig.

Diese Ansicht wird
gewöhnlich als Reformismus bezeichnet, manchmal auch als
Revisionismus (weil die Anhänger dieser Lehre sie als
"Revision", d.h. als Abänderung der ursprünglichen
Lehre von Marx verstanden) oder als sozialdemokratisch (obwohl es bis
1914 in der SPD noch eine Mehrheit von Anhängern des
revolutionären Weges gab.

Heute wird diese Ansicht
von linken und rechten Sozialdemokraten geteilt und auch die meisten
Kommunistischen Parteien haben sich in Westeuropa offiziell im
Programm zum "friedlichen Weg" zum Sozialismus bekannt.

Der Reformismus scheint auf
den ersten Blick sehr vernünftig. Er paßt in das Bild, das
wir auf den Schulen, im Fernsehen und den Zeitungen von unserem Staat
vermittelt bekommen: daß das Parlament die Gesetze macht und
die Regeln aufstellt, nach denen unsere Gesellschaft funktioniert,
und daß das Parlament in demokratischer Wahl nach dem
demokratischen Willen des Volkes gebildet wird. Trotzdem ist bisher
jeder Versuch, den Sozialismus durch das Parlament einzuführen,
fehlgeschlagen.

So gab es zu Beginn der
Weimarer Republik und seit 1969 in der Bundesrepublik mehrere
Regierungen unter Führung der Sozialdemokratie, und trotzdem
sind wir in den Jahren seit 1969 dem Sozialismus um kein Stückchen
näher gekommen.

Auch im Ausland gibt es
gleiche Erfahrungen. 1970 wurde der Sozialist Salvador Allende zum
Präsidenten von Chile gewählt. Viele Sozialisten
argumentierten damals, daß dies ein "neuer Weg zum
Sozialismus" sei. Drei Jahre später stürzten die
gleichen Generäle, die zuvor aufgefordert worden waren, der
Regierung beizutreten, Allende und zerschlugen die chilenische
Arbeiterbewegung.

Es gibt drei Argumente,
warum der Reformismus immer scheitern muß. Erstens bleibt die
tatsächliche wirtschaftliche Macht erst einmal in den Händen
der alten herrschenden Klasse, solange eine sozialistische Mehrheit
im Parlament "schrittweise" sozialistische Reformen
einführt. Diese wirtschaftliche Macht gebrauchen die
Herrschenden dazu, ganze Industriezweige lahmzulegen, die Preise
durch Spekulation und Horten in die Höhe zu treiben,
Arbeitslosigkeit zu schaffen, Geld ins Ausland zu schaffen und so
eine Zahlungsbilanzkrise zu verursachen, eine Pressekampagne zu
starten, die das alles der Regierung in die Schuhe schiebt.

Ein Beispiel, wie die
Unternehmer ihre wirtschaftliche Macht benutzen, um Reformen zu
verhindern, ist das Schicksal der Berufsbildungsreform unter der
SPD-Regierung seit 1969. Als die Unternehmer durch einen allgemeinen
Boykott der Lehrlingsausbildung dafür sorgten, daß die
Jugendarbeitslosigkeit rasch in die Höhe schoß, ließ
die Regierung den größten Teil ihrer ursprünglichen
Pläne von 1969 rasch wieder fallen.

Allendes Regierung in Chile
sah sich dem gleichen Problem nur in viel größerem Maßstab
ausgesetzt. Zweimal wurden während seiner Regierungszeit ganze
Industriezweige durch "Unternehmerstreiks" lahmgelegt, die
Preise wurden absichtlich durch Horten von Gütern in
schwindelnde Höhen getrieben und die Bevölkerung mußte
Schlange stehen, um das allernotwendigste zum Lebensunterhalt zu
bekommen.

Der zweite Grund, warum der
Kapitalismus nicht reformiert werden kann, liegt darin, daß der
bestehende Staatsapparat nicht "unparteiisch", neutral ist,
sondern von oben bis unten dafür eingerichtet ist, die
bestehende kapitalistische Gesellschaft zu erhalten.

Der Staat kontrolliert fast
alle Mittel zur Ausübung körperlichen Zwangs, die
Gewaltmittel. Wenn der Staatsapparat tatsächlich neutral wäre
und ausführen würde, was auch immer irgendeine Regierung
verlangt – sei sie kapitalistisch oder sozialistisch – dann könnte
der Staat benutzt werden, um z.B. den wirtschaftlichen Boykott der
Kapitalisten zu brechen. Aber man braucht sich nur anzusehen, wie der
Staatsapparat läuft und wer ihm wirklich die Befehle gibt, um zu
erkennen, daß er nicht neutral ist.

Der Staatsapparat ist nicht
nur einfach die Regierung. Er ist eine riesige Organisation mit
vielen verschiedenen Abteilungen – der Polizei, der Armee, den
Richtern, den Beamten, den Menschen, die die verstaatlichten
Wirtschaftszweige betreiben usw. Viele Menschen, die in den
verschiedenen Zweigen des Staates arbeiten, stammen aus der
Arbeiterklasse, sie leben wie diese und erhalten den gleichen Lohn
wie diese.

Aber diese Menschen treffen
keine Entscheidungen. Der gewöhnliche Soldat hat keinen Einfluß
auf die Frage, ob Krieg geführt wird, und der gewöhnliche
Polizist hat keinen Einfluß auf einen Einsatz gegen streikende
Arbeiter. Die Sozialarbeiter auf den Sozialämtern entscheiden
nicht über die Höhe der Sozialhilfe. Der ganze
Staatsapparat beruht darauf, daß es eine Unterordnung der
unteren Stufen unter die nächsthöheren im Apparat gibt.

Das gilt besonders für
die bewaffneten Abteilungen des Staates – Heer, Marine, Luftwaffe,
Bundesgrenzschutz, Polizei. Das erste, was ein Soldat zu hören
bekommt – lange bevor er überhaupt eine Waffe anfassen darf –
ist, daß er den Befehlen seiner Vorgesetzten unbedingt Gehorsam
zu leisten hat, gleichgültig, welche Meinung er dazu hat.
Deshalb sind gerade scheinbar sinnlose Drillübungen der Armee so
wichtig. Wenn ein Soldat erst einmal bereit ist, sich auf dem
Übungsplatz mit seiner sauberen Uniform in den Schlamm zu
werfen, dann wird er später genausowenig widersprechen, wenn ihm
befohlen wird, zu schießen.

Das schlimmste Vergehen in
der Armee ist, dem Befehl des Vorgesetzten nicht zu gehorchen. Die
Meuterei wird im Kriegsfall auch heute noch in den meisten Ländern
mit der Todesstrafe geahndet.

Wer gibt die Befehle? In
der Bundeswehr führt die Befehlsleiter vom General zum Leutnant,
vom Unteroffizier bis hin zum einfachen Rekruten. Die gewählten
Vertreter der Parlamente oder der örtlichen Gemeinde und
Stadträte haben an keiner Stelle dieser Stufenleiter das Recht
auf Einblick, Kontrolle oder gar Weisungsbefugnis.

Die Armee ist eine riesige
Tötungsmaschine. Die Menschen, die an ihrer Spitze stehen, die
Generäle, haben gleichzeitig die Macht, andere Soldaten in
Führunspositionen zu befördern.

Natürlich sind die
Generäle theoretisch an die Weisungen und Beschlüsse des
Parlaments und seiner Regierung gebunden. Aber die Soldaten werden
darauf trainiert, ihren Generälen zu gehorchen, nicht den
Politikern. Falls die Generäle sich weigerten,
Regierungsbeschlüsse umzusetzen, wäre die Regierung erst
einmal machtlos. Sie kann nur hoffen, die Generäle umzustimmen.
Außerdem haben die Generäle auf Grund der
"Geheimhaltungspflichten" in militärischen Fragen
große Möglichkeiten, ihre wahren Pläne und Absichten
zu verschleiern.

Das bedeutet nicht, daß
die Generäle im Normalfall häufig über
Regierungsbeschlüsse hinweggehen. Aber in einer Frage von Leben
und Tod sind die Generäle in der Lage, die Tötungsmaschine
ganz unabhängig und gegen den erklärten Willen von
Regierungen einzusetzen. Nichts anderes geschah in Chile, als Allende
gestürzt wurde.

Deshalb läuft die
Frage, wer die Armee kontrolliert, eigentlich auf die Frage hinaus:
Wer sind die Generäle?

In der Reichswehr waren die
führenden Generäle häufig Mitglieder des preußischen
Adels, der über Jahrhunderte jeder Art des gesellschaftlichen
Wandels feindlich gesonnen war. Als nach 1955 die Bundeswehr
aufgebaut wurde, wurden die führenden Generäle ausnahmslos
aus den Reihen der hitlerschen Reichswehr geholt. So ist die
Tradition des alten "Korpsgeistes" im Generalstab bis auf
den heutigen Tag erhalten. Ein General, der seine eigene Meinung
äußert, wie der ehemalige General Bastian (später für
die Grünen im Bundestag), und diese dann auch noch kritisch
gegen das vorherrschende Feindbild von der "kommunistischen
Bedrohung" richtet, wird sofort entlassen.

Als 1920 in Berlin einige
rechte Truppenteile unter dem General Kapp einen Putschversuch gegen
die sozialdemokratische Regierung unternahmen, rief diese die Führung
der Reichswehr zur Hilfe, um den Putsch niederzuschlagen. Der
Oberbefehlshaber der Reichswehr von Seeckt sagte nur: "Reichswehr
schießt nicht auf Reichswehr."

Mehr als alle papiernen
Verfassungen und Gesetze zeigt dieser Ausspruch, daß die
Generalität zuerst und immer auf die Einheit ihrer Truppen unter
ihrer Führung achtet, auch wenn sie diese in offenen Widerspruch
zu den Befehlen der gewählten Regierung bringt.

Ein Putsch gegen eine linke
Regierung, wie der des General Kapp von 1920 kann sich heute in
Deutschland wiederholen, weil die Armee noch immer nach den gleichen
Prinzipien des blinden Gehorsams aufgebaut ist und noch immer der
gleiche konservative reaktionäre Korpsgeist in der führenden
Generalität herrscht.

Aber bevor es zu einem
militärischen Sturz der Regierung kommt, gibt es noch genügend
"gesetzliche" Möglichkeiten, die Pläne einer
linken Regierung zu durchkreuzen. Wenn solch eine Regierung gewählt
würde, würden die Unternehmer zu massiver wirtschaftlicher
Sabotage greifen. Bei dem Versuch der Regierung, dagegen mit
gesetzlichen Mitteln vorzugehen, würde sie feststellen, daß
ihr die Hände gebunden sind.

Der Bundesrat würde
sich weigern, derartige Gesetze zu unterzeichnen und die
Verabschiedung so lange wie möglich hinauszögern. Das
Bundesverfassungsgericht würde sie als nicht verfassungsgemäß
zurückweisen. Von dieser Möglichkeit hat dieses Gericht
unter der SPD/FDP-Regierung mehrere Male Gebrauch gemacht: Eine
Entscheidung des BVG richtete sich gegen die Reform des § 218
(Abtreibung) und hatte zur Folge, daß die Reform nochmal
verwässert wurde. Ein anderer Richterspruch des BVG brachte die
Wiedereinführung der mündlichen Gewissensprüfung von
Wehrdienstverweigerern, nachdem das Gesetz zu ihrer Abschaffung für
verfassungswidrig erklärt worden war.

Aber selbst wenn solch ein
Gesetz verabschiedet würde, würden die Richter das Gesetz
so auslegen, daß es wirkungslos wird. Die Chefs der
Geheimdienste, Generäle, Polizeichefs würden diese
Entscheidung als Rechtfertigung benutzen, die Anweisungen der
Minister nicht auszuführen. Sie würden von der gesamten
Presse unterstützt, die der Regierung "illegales",
"verfassungswidriges" Vorgehen vorwerfen würde. Dann
würden die Generäle dieses Argument benutzen, um
Vorbereitungen zum Sturz einer "illegalen" Regierung zu
treffen.

Die Regierung wäre
machtlos, das ökonomische Chaos in den Griff zu bekommen – es
sei denn, sie würde wirklich verfassungswidrig handeln und die
einfachen Geheimdienstleute, Polizisten und Soldaten aufrufen, sich
gegen ihre Chefs zu stellen.

Sollte irgendwer meinen,
das alles sei wilde Phantasie: genau das spielte sich in
Großbritannien 1912 ab. Das Unterhaus verabschiedete ein
Gesetz, um eine von Großbritannien unabhängige Regierung
für ein vereintes Irland vorzubereiten. Der Führer der
konservativen Torypartei verleumdete sofort die (liberale!) Regierung
als illegale "Junta", die die Verfassung "ausverkauft"
habe. Das Oberhaus verzögerte das Gesetz solange es konnte (zwei
Jahre), während ein ehemaliger Toryminister paramilitärische
Truppen in Nord-Irland organisierte, um gegen das Gesetz Widerstand
zu leisten. Als die kommandierenden britischen Generäle in
Irland aufgefordert wurden, ihre Truppen in den Norden zu verlegen,
weigerten sie sich. Wegen dieser Ereignisse ist Irland
heute noch geteilt.

Wenn das
bereits unter einer liberalen Regierung geschehen konnte, ist
es leicht vorstellbar, was unter einer militanten sozialistischen
Regierung ablaufen wird.

Jede ernsthafte
reformistische Regierung sähe sich sehr schnell vor die
Alternative gestellt: Entweder sie gibt die Reformen auf, um jene
Kräfte zu beschwichtigen, die über die Industrie und die
Schlüsselpositionen im Staat verfügen, oder sie bereitet
sich auf die totale Konfrontation vor, was in jedem Fall den Einsatz
von Gewalt gegen jene bedeuten müßte, die bisher über
die Machtpositionen verfügen.

Ein dritter Grund für
das unweigerliche Scheitern des Reformismus liegt in der Arbeitsweise
des Parlamentarismus selbst, die verhindert, daß sich eine
revolutionäre Massenbewegung im Parlament ausdrücken kann.

Die Mehrheit der Menschen
wird erst dann glauben, die Gesellschaft selbst in ihre Hand nehmen
zu können, wenn sie beginnen, die Gesellschaft praktisch, durch
ihren Kampf, zu verändern. Wenn Millionen Menschen ihre Fabriken
besetzen oder an einen Generalstreik teilnehmen, erscheinen die Ideen
des revolutionären Sozialismus plötzlich realistisch.

Aber ein derartig hohes
Niveau der Kämpfe kann nicht unbegrenzt andauern, es sei denn,
die alte herrschende Klasse wird ihrer Macht beraubt. Wenn diese
weiterbesteht, wird die herrschende Klasse abwarten, bis die
Besetzungen und Streiks abflauen, um dann ihre Kontrolle über
Armee und Polizei zu benutzen, um den Kampf niederzuschlagen.

Und wenn Streiks und
Besetzungen erst einmal abflauen, ist auch die Einheit und das
Selbstvertrauen der Arbeiter bedroht. Enttäuschung und
Verbitterung machen sich breit. Selbst die Besten fragen sich nun, ob
die Veränderung der Gesellschaft nicht doch nur ein schöner
Traum war.

Das ist auch der Grund,
warum die Unternehmerverbände so begierig auf
"Schlichtungsabkommen" mit den Gewerkschaften sind, die
alleine dazu dienen, eine Phase der "Abkühlung" durch
ein Ritual von Verhandlungen vor einen Streikbeschluß zu
stellen. Während dieser Phase haben sie alle Möglichkeiten,
über das Fernsehen und die Presse die Arbeiter zu beeinflussen.

Das parlamentarische
Wahlsystem sieht ebenfalls solche "Abkühlungsphasen"
und "Schlichtungsvereinbarungen" vor. Wenn sich eine
Regierung durch Massenstreiks in die Knie gezwungen sieht, wird sie
beispielsweise sagen: »OK, warten wir die nächsten
Bundestagswahlen ab, da kann die strittige Frage demokratisch
entschieden werden.« Sie hofft natürlich, daß der
Streik bis dahin längst vergessen ist und mit ihm das
Selbstvertrauen und die Einheit der Arbeiter.

Inzwischen werden
Fernsehen, Presse und Polizei wieder ihre normale Funktion übernehmen
können und die Polizei kann einige "Rädelsführer"
festnehmen.

Wenn dann die Wahl endlich
stattfindet, wird das Ergebnis nicht mehr die Stimmung vom Höhepunkt
der Streikbewegung widerspiegeln, sondern von ihrem Tiefpunkt nach
dem Streik.

In Frankreich setzte die
Regierung des Generals de Gaulle 1968 die Wahlen genau mit diesem
Ziel ein. Die reformistischen Parteien forderten die Arbeiter auf,
ihren Generalstreik, an dem 10 Millionen Arbeiter teilnahmen, zu
beenden – und de Gaulle gewann die Wahl.

Der britische
Premierminister Edward Heath versuchte den gleichen Trick, als seine
Regierung mit einem Massenstreik der Bergarbeiter konfrontiert war.
Die Bergarbeiter ließen sich nicht täuschen. Sie setzten
ihren Streik auch nach der Ausschreibung von Neuwahlen fort und Heath
verlor die Wahl.

Wenn die Arbeiter hoffen,
ihre zentralen Forderungen durch Wahlen für sich zu entscheiden,
werden sie nie zu ihrem Ziel kommen.

Der Arbeiterstaat

Marx entwickelte in seiner
Schrift "Bürgerkrieg in Frankreich" eine ganz andere
Perspektive für den Sieg des Sozialismus. Ebenso Lenin in seiner
Broschüre "Staat und Revolution".

Beide gewannen ihre
Einsichten aus der Beobachtung von Aktionen der Arbeiterklasse. Marx
erlebte die Pariser Kommune, Lenin die russischen Sowjets
(Arbeiterräte) von 1905 und 1917.

Aber Marx und Lenin
bestanden darauf, daß die Arbeiterklasse zuerst den alten Staat
mit seinen bürokratischen Befehlsketten zerstören könne.

Lenin unterstrich den
Unterschied des alten zum neuen Staat, indem er ihn den
"Kommune-Staat" nannte, ein "Staat, der kein Staat
ist".

Dieser neue Staat sei
notwendig, sagten Marx und Lenin, weil die Arbeiterklasse ihre
Gesetze und Ziele gegen die frühere herrschende Klasse
durchsetzen müsse. Marx nannte diesen Staat deshalb auch die
Diktatur des Proletariats, die Arbeiterklasse müsse diktieren,
wie die Gesellschaft organisiert werden solle. Sie müsse ihre
Revolution auch gegen Angriffe der herrschenden Klasse aus anderen
Teilen der Welt verteidigen.

Um diese beiden Aufgaben
erfüllen zu können, brauche sie bewaffnete Streitkräfte
und eine Art Polizei sowie Gerichte und sogar Gefängnisse. Aber
wenn die neue Armee und Polizei sowie das Rechtssystem wirklich unter
Kontrolle der Arbeiter bleiben und sich nie gegen sie wenden sollten,
dann müßten die Herrschaftsinstrumente der Arbeiterklasse
nach ganz anderen Prinzipien aufgebaut werden als der kapitalistische
Staat.

Diese
Herrschaftsinstrumente sollten keine Diktatur gegen die Mehrheit der
Arbeiterklasse ermöglichen, sondern sollten es der Mehrheit der
Bevölkerung, nämlich der Arbeiterklasse, ermöglichen,
der ganzen Gesellschaft ihren Willen aufzuzwingen.

Die Hauptunterschiede zum
kapitalistischen Staat sind folgende:

Der kapitalistische Staat
dient den Interessen einer kleinen Minderheit der Gesellschaft. Der
Arbeiterstaat muß den Interessen der übergroßen
Mehrheit der Bevölkerung Ausdruck geben. Gewalt wird im
kapitalistischen Staat von einer kleinen Minderheit gekaufter Killer
ausgeübt, die vom Rest der Gesellschaft abgekapselt lebt und
trainiert wird, den Befehlen bürgerlicher Offiziere zu
gehorchen. Aber in einem Arbeiterstaat wäre Gewalt nur
notwendig, damit sich die Arbeiterklasse vor antisozialen Aktionen
der Reste der alten privilegierten Klassen schützen kann.

Soldaten- und
Polizeiaufgaben können im Arbeiterstaat von normalen Arbeitern
ausgeübt werden, die zusammen mit anderen Arbeitern arbeiten und
leben und deren Ideen teilen.

Um sicherzustellen, daß
niemals Gruppen von Soldaten und Polizisten eigene Interessen gegen
die der Masse der Arbeiter entwickeln, sollten die "Soldaten"
und "Polizisten" gewöhnliche Fabrikarbeiter und
Verwaltungsangestellte sein, die nach einem Rotationssystem
abwechselnd diese Aufgabe wahrnehmen. Die bewaffneten Streitkräfte
und die Polizeitruppen würden von gewählten und abwählbaren
Offizieren der Arbeiterklasse angeführt.

Parlamentarier und
Stadträte eines kapitalistischen Staates verabschieden Gesetze
und Verordnungen, überlassen deren Anwendung und Durchsetzung
dann aber den hauptamtlichen Bürokraten – dem
Polizeipräsidenten, Richter usw. Das bedeutet, daß die
Abgeordneten stets Millionen Entschuldigungen haben, wenn ihre
politischen Versprechungen nicht erfüllt werden.

Die Delegierten in einem
Arbeiterstaat, die Räte, müßten sich selbst um die
Umsetzung ihrer Gesetze kümmern. Sie selbst und nicht eine Elite
von Spitzenbürokraten müßten den Arbeitern der
öffentlichen Verwaltungen, der Armee usw. erklären, wie die
Beschlüsse zu verwirklichen und anzuwenden sind. Und gewählte
Arbeiterdelegierte hätten die Gesetze in den Gerichten zu
interpretieren.

Die Parlamentarier in einem
kapitalistischen Staat sind von ihren Wählern allein durch ihre
hohen Gehälter getrennt. In einem Arbeiterstaat bekämen die
Delegierten nicht mehr als den durchschnittlichen Arbeiterlohn. Das
gleiche gilt für alle hauptamtlichen Funktionäre in der
Armee, Polizei und den Verwaltungen.

Vor allem aber
unterscheiden sich die Räte von den Parlamentariern durch die
Art der Wahl selbst. Parlamentsabgeordnete werden von allen Menschen
eines Wahlbezirks gewählt: von Reichen, von Mittelständlern,
von Arbeitern, von Hausbesitzern und Spekulanten und auch von
Mietern.

In einem Arbeiterstaat
würden die Abgeordneten nur von der Arbeiterklasse gewählt.
Der Kern des Arbeiterstaates bestünde somit aus Arbeiterräten,
deren Wahlbezirke nicht eine Region oder ein geographischer Kreis
wären, sondern die Fabriken, die Bergwerke, die Häfen, die
großen Verwaltungsbetriebe. In den Arbeiterräten wären
auch die großen gesellschaftlichen Gruppen wie die Hausfrauen,
die Rentner, Studenten und Schüler vertreten. Wichtige
Beschlüsse würden erst nach öffentlicher Debatte über
die anstehenden Fragen gefällt.

Auf diese Weise hätte
jeder Teil der Arbeiterklasse seine eigenen Vertreter und könnte
unmittelbar selbst beurteilen, ob diese sich für ihre Interessen
einsetzen.

Alle Arbeiterdelegierten
und alle, die die Entscheidungen der Arbeiter umzusetzen haben, wären
nicht – wie die Mitglieder des Bundestages – auf vier Jahre gewählt
und in dieser Zeit unantastbar. Sie müßten sich mindestens
jährlich zur Wiederwahl stellen und wären auch zwischen den
ordentlichen Wahlen jederzeit abwählbar, wenn sie die Wünsche
ihrer Wähler nicht erfüllen.

Auf diese Weise könnte
sich der Staat auch nicht zu einer besonderen Macht über und
gegen die Mehrheit der Arbeiterklasse entwickeln, wie das in
sogenannten kommunistischen Ländern heute der Fall ist.

Gleichzeitig sind die
Arbeiterräte das Mittel, um die Umsetzung der demokratisch
entschiedenen nationalen Wirtschaftspläne zu diskutieren und
koordinieren. Nur so können sie verhindern, daß die
einzelnen Fabriken in Konkurrenz gegeneinander geraten.

Es ist leicht einzusehen,
daß gerade die Computer-Technik den Arbeitern rasch alle
wichtigen Informationen über die verschiedenen wirtschaftlichen
Möglichkeiten liefern kann; mit Hilfe solcher
Informationstechniken können sie sich über die möglichen
Alternativen klar werden und entsprechend ihren Abgeordneten Aufträge
geben und deren Beschlüsse nachvollziehen.

Sie können selbst
entscheiden, was der beste Einsatz des wirtschaftlichen Reichtums im
Interesse der Arbeiterklasse ist – für Atomkraftwerke z.B. oder
die Verwendung anderer Energiequellen, für ein neues
Überschallflugzeug oder für den Ausbau der öffentlichen
Verkehrssysteme in den Ballungszentren, für Atomraketen oder
mehr künstliche Nieren.

Das Absterben des
Arbeiterstaates

Der Arbeiterstaat
unterscheidet sich vom kapitalistischen Staat nicht nur in seinem
Aufbau. Weil die Staatsmacht eines Arbeiterstaates nicht von den
Arbeitern losgelöst ist, ist sie auch wesentlich weniger
gewaltsam als im Kapitalismus.

In gleichem Maße wie
die Überreste der alten Gesellschaft, gegen die sich die Gewalt
des Arbeiterstaates richtete, vor dem Erfolg der Revolution
kapitulieren und in dem Maße, wie die herrschenden Klassen im
Ausland von der Revolution gestürzt werden, nähme auch die
Notwendigkeit ab, Gewalt anzuwenden, bis die Arbeiter schließlich
nicht länger ihre Arbeit gegen Polizei- und Armeefunktionen
aufgeben müssen.

Diesen Prozeß nannten
Marx und Lenin das Absterben des Staates. Statt Gewalt gegen Menschen
auszuüben, würde dann der Staat sich darauf beschränken,
die Beschlüsse der Arbeiterräte über die Produktion
und Verteilung der Güter umzusetzen.

Arbeiterräte sind
immer dann entstanden, wenn sich der Klassenkampf im Kapitalismus
zuspitzte. Die russischen Arbeiter nannten ihre Räte von 1905
und 1917 Sowjets.

In Deutschland waren die
Arbeiterräte 1918 für einen kurzen Augenblick die einzige
Macht im Land. In Spanien schlossen sich 1936 die verschiedenen
Arbeiterparteien und Gewerkschaften zu Milizkomitees zusammen, die
die Verwaltung in den Gemeinden ausübten und den Arbeiterräten
sehr ähnlich waren.

In Ungarn wählten die
Arbeiter 1956 während ihres Kampfes gegen russische Truppen
Räte, deren Aufgabe es war, die Fabriken und Gemeinden zu
verwalten. 1972-73 bildeten die Arbeiter in Chile Cordones,
Arbeiterkomitees, die die großen Fabriken miteinander
verbanden.

Die Arbeiterräte sind
nicht von vornherein Organe des Arbeiterstaates. Sie sind bei ihrer
Entstehung oft nur Organisationen der Arbeiter im Kampf gegen den
Kapitalismus. Ein Arbeiterrat mag zu Beginn sehr beschränkte
Aufgaben wahrnehmen, wie zum Beispiel das Sammeln von Streikgeldern.
Aber weil diese Art der Organisation direkt von den Arbeitern gewählt
wird und die gewählten Vertreter jederzeit abwählbar sind,
können sie auf dem Höhepunkt des Kampfes die gesamte
Arbeiterklasse zusammenschließen. Sie können den
Grundstein für die zukünftige Arbeitermacht legen.

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