Was Piccasso von Afrika lernte

Die moderne Kultur ist keine europäische Erfindung, sondern hat ihre Wurzeln in der ganzen Welt.

In Diskussionen über den vermeintlichen „Kampf der Kulturen“ tauchen immer schnell Fragen nach „Zivilisation“ und Entwicklung von „Kultur“ auf.

Die meisten rassistischen Ideologien werden durch die Vorstellung untermauert, dass die Entwicklung der Zivilisation im Wesentlichen eine europäische oder westliche Erscheinung gewesen sei.

In Wirklichkeit entwickelte sich die Zivilisation – also das Leben in Städten, Lesen und Schreiben, Gesetze und so weiter – zunächst in drei Gebieten, von denen keines in Europa liegt: im „fruchtbaren Halbmond“ des Nahen Ostens, in Nordwestindien und Südostchina.

Darüberhinaus war Europa im Mittelalter bedauernswert rückständig, verglichen mit China oder der islamischen Zivilisation im Nahen Osten und Nordafrika.

Aber selbst jene, die diese grundlegenden geschichtlichen Tatsachen anerkennen, klammern sich häufig trotzdem an die Idee, dass die „moderne Kultur“ und die „Moderne“ eine ausschließlich europäische und deshalb „weiße“ Schöpfung sind.
Daneben gibt es Leute aus dem antirassistischen Lager, die unterschiedliche Kulturen zwar als gleichberechtigt oder „gleichwertig“ ansehen, aber trotzdem glauben, dass sie voneinander getrennte Inseln seien und von Natur aus mit ethnischen Gruppen verbunden wären.

Eine beeindruckende Infragestellung all dieser Auffassungen über die Entwicklung der Kultur sind Werk und Lebenslauf des größten aller modernen Künstler – Pablo Picassos.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Picasso wegen seiner Werke aus der „blauen“ und „rosa“ Periode bereits ein aufgehender Stern in der Kunstwelt. In diesen Bildern stellte er auf kraftvolle, wenn auch etwas sentimentale Weise, hauptsächlich die Armen und an den Rand der Gesellschaft Gedrängten dar.

Dann, im Jahr 1907, malte Picasso „Les Demoiselles d’Avignon“ (Die Fräulein von Avignon), das fünf Prostituierte in einem spanischen Bordell darstellt, die sich ihren möglichen Freiern darbieten und den Betrachter von der Leinwand unerbittlich anstarren.

Dieses Gemälde stand am Beginn der Entstehung des Kubismus und der gesamten klassischen modernen Kunst. Damals schockierte es nicht nur das Establishment, sondern auch Picassos avantgardistische Künstlerfreunde wie Georges Braque und Henri Matisse.

Zu den vielen schockierenden Elementen der Darstellung gehörte unter anderem, dass zwei der Frauenköpfe afrikanischen Masken ähnelten, während die anderen drei Köpfe Bildern alter iberischer Kultur entlehnt waren.

Der marxistische Kunstkritiker John Berger beschreibt die „Fräulein von Avignon“ als „einen wütenden Frontalangriff gegen das Leben, so wie Picasso es vorfand“ – und die afrikanischen Maskenbilder gehören dazu. Wenn wir uns jedoch ansehen, wie sich Picassos Werk weiterentwickelt, entdecken wir, dass die Verwendung afrikanischer Kunststile auch eine tiefere Bedeutung hat.

In der afrikanischen Kunst fand Picasso den Schlüssel, oder einen der Schlüssel, zu einer neuen Weise die Welt zu sehen und darzustellen, sowie zu einer grundsätzlich neuen Kunstidee. Dies brach entscheidender als zuvor mit der vorherrschenden europäischen Kunsttradition – ein Bruch, der sich seit Jahrzehnten herausgebildet hatte.

Seit dem 15. Jahrhundert – mit dem Einsetzen der Ära des Kapitalismus – hatte sich die europäische Malerei und Bildhauerei darauf konzentriert, ein möglichst naturgetreues Abbild der Welt zu erschaffen. Sie versuchte mehr oder weniger genaue Kopien von Dingen, Menschen und Szenen zu machen, besonders des Eigentums, Landbesitzes und Erscheinungsbildes der Reichen und Mächtigen.

Die afrikanischen Skulpturen, von denen Picasso sich beeinflussen ließ, gehörten zu einer vorkapitalistischen Gesellschaft, in der Kunst eine ganz andere Rolle spielte.

Sie war nicht dazu da, um in Palästen oder Museen zur Schau gestellt zu werden, sondern für den Gebrauch im Alltagsleben, vor allem in Ritualen. Ihr Ziel war nicht die lebensnahe Nachahmung von gesellschaftlichem Status oder Eigentum, sondern sie sollte Ausdruck einer „geistigen“ Stärke oder Macht sein.

Das machte diese Kunst zu einer so wertvollen Quelle der Inspiration für die Künstler der Bohème, zu denen auch Picasso gehörte, die gegen all die Traditionen der bürgerlichen und aristokratischen Kunstakademien aufbegehrten.

Wenn es sich nur um ein einzelnes modernes Werk drehen würde, das von afrikanischer Kunst beeinflusst wurde, könnte dies als Zufall abgetan werden – so war es aber nicht.

Der afrikanische Einfluss auf Picasso und auf Braques Kubismus, und dann auf Picassos spätere Arbeit ist offensichtlich. Gemälde wie die „Drei Tänzer“ und sogar „Guernica“ wären ohne den Durchbruch, den die „Demoiselles“ darstellten, undenkbar gewesen.

Und es gab viele weitere Künstler, die ebenfalls unmittelbar von afrikanischer Kunst beeinflusst wurden. Zu ihnen gehörten Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck, der Wegbereiter modernistischer Bildhauerei Constantin Brancusi, die deutschen Expressionisten Paul Klee und Amedeo Modigliani, sowie der Bildhauer Alberto Giacometti.

All jene waren Teil einer noch viel breiten Strömung, die sich nichteuropäischen vorkapitalistischen Inspirationsquellen zuwandte. Sie reichte von der Begeisterung für japanische Drucke seitens der Impressionisten und Vincent van Goghs, über Paul Gauguins Auswanderung nach Tahiti, Henri Rousseaus „primitivistische“ Heraufbeschwörung von Dschungelszenen oder der Anregung, die Henry Moore aus Mayaskulpturen schöpfte, bis hin zu Jackson Pollock, der sich bei seinen „Träufelgemälden“ von der Technik des Sandstreuens unter amerikanischen Ureinwohnern beeinflussen ließ.

Noch war diese Bewegung auf die bildende Kunst beschränkt – man nehme die Rolle, die Blues und Jazz mit ihren afrikanischen Wurzeln in der modernen Musik spielten, Ezra Pounds Übersetzungen chinesischer Poesie oder D. H. Lawrences Reise nach Mexiko.

Politisch war diese allgemeine Strömung höchst zwiespältig. Sie konnte, wie im Fall von Picasso, einen linken Einschlag haben und sogar ein Zeichen der Identifikation mit antiimperialistischen Kämpfen sein.

Sie konnte aber auch mit kolonialistischen Vorstellungen vom „Exotischen“ verbunden sein oder sogar, wie bei Pound und Lawrence, mit faschistischen Ideen von „Rasse“ und „Blut“.

Und doch ging es in all diesen Fällen um die Suche nach Gegenmodellen zu den traditionellen europäischen Konventionen hinsichtlich Sprache, Rhythmus und visueller Darstellung. Diese flossen dann in die Auseinandersetzung mit den Kräften der Moderne ein – Elektrizität, Autos, Flugzeuge und die Rastlosigkeit des Stadtlebens –, um etwas Neues zu schaffen: die moderne Kunst.

Das Beispiel Picassos und dieser Zeitabschnitt insgesamt zeigen, dass Kulturen nicht in starren und geschlossenen Räumen entstehen, sondern sich durch Beeinflussungen von außen und gegenseitige Durchdringung entwickeln.

Das war schon immer so, schon seit dem Einfluss des alten Ägpytens auf die Griechen. Aber es gilt umso mehr für das heutige Zeitalter des Imperialismus und der Globalisierung.

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